Eine Einführung in den Begriff der Ästhetik aus islamischer Sicht
Schönheit und Harmonie sind zentrale Termini im Zusammenhang mit dem Begriff der Ästhetik. Ungeachtet des Objekts unserer Betrachtung, sei es ein Gegenstand, ein Bild, ein Bauwerk, die Natur oder ein Mensch, empfinden wir Wohlgefallen angesichts von Schönheit, die aus Harmonie entspringt. Auch die klassische europäische Kunstästhetik definiert das Schöne als „Harmonie der Teile des Ganzen“.1 Navid Kermani definiert das Ästhetische als „das sinnlich, mit den Augen und Ohren Wahrnehmbare und dann auch das künstlerisch Erfahrbare und Genussbereitende eines Gegenstandes oder einer Erscheinung.“2
Wir können jeweils eine ästhetische Rezeption, Erkenntnis und Dimension definieren. Die Rezeption betrifft die „optischen, akustischen, haptischen, geruchlichen, geschmacklichen Eigenschaften oder auch […] [die] expressiven Qualitäten“3 eines Gegenstandes. Eine ästhetische Erkenntnis erlangen wir im Gegensatz zur vernunftbasierten Erkenntnis mithilfe unserer Sinne. Mittels bestimmter Kriterien können wir die ästhetische Dimension von Kunstwerken erfassen, aber auch beispielsweise jene des Korans. Mit ebendieser Dimension befasst sich Kermani eingehend in seinem Werk Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran (2000). Kermani zufolge wohnt jeder Offenbarungsschrift eine ästhetische Dimension inne.4
„Unterschiedlich ist, welche Bedeutung dieser Dimension in der jeweiligen Kultur zukommt. Der Islam ist, was die ästhetische Rezeption seiner Heiligen Schrift betrifft, keine Ausnahme, sondern ein […] markantes Exempel für die enge und sich aus dem gemeinsamen Ursprung erklärende Beziehung von Kunst und Religion, Offenbarung und Poesie, religiöser und ästhetischer Erfahrung.“5
Das ästhetische Erleben des Korans durch die muslimischen Gläubigen war und ist seit Beginn an Bestandteil der islamischen Glaubenspraxis. Dennoch sucht man in den zahlreichen Publikationen zu den Themen Islam meist vergeblich nach diesem Aspekt der Ästhetik.6 Will man den Begriff Ästhetik im Zusammenhang mit Kunst- und Bauwerken der islamischen Welt untersuchen, so ist zu bedenken, dass die Geschichte der sogenannten Islamischen Kunst eine Zeitspanne von 1400 Jahren umfasst sowie „eine gewaltige Breite von Gattungen und Formen, in denen Inhalte, Werte und Einstellungen künstlerisch ausgedrückt werden konnten.“7 Lorenz Korn, deutscher Professor für Islamische Kunstgeschichte, weist darauf hin, dass angesichts dieser zeitlichen, inhaltlichen und kulturellen Bandbreite sowie der unterschiedlichen politischen und religiösen Ausformungen innerhalb der islamischen Welt wohl kaum so etwas wie eine „islamische Essenz“8 feststellbar sein kann, „die gewissermaßen aus den Eigenschaften aller möglichen Werke herausgefiltert werden könnte.“9 Dies wäre auch angewandt auf die abendländische Kunst ein Ding der Unmöglichkeit.10
Dennoch nennt Korn einige Spezifika im Zusammenhang mit islamischer Kunst: Im Zuge der Erweiterung politischer Macht über unterschiedliche Kulturen sei es zur Verknüpfung verschiedener „Traditionsstränge“11 gekommen. Islamische Kunst „war durch Jahrhunderte hindurch offen für neue Elemente, auch wenn diese zunächst als fremd empfunden wurden.“12 Weiters lässt sich ein „formale[r] Gestaltungswille […], der auch einfache Gebrauchsgegenstände in gefällige Formen brachte oder mit Ornamenten und Inschriften überzog“13, feststellen. In allen Epochen islamischer Kunst spielen Pflanzenmotive, geometrische Muster und Inschriften eine überaus bedeutende und präsente Rolle in der Gestaltung der unterschiedlichsten Gegenstände, besonders auch in der Buchmalerei und der Baukunst.14 Erkenntnisse der angewandten Geometrie schlugen sich besonders ab dem 12. Jahrhundert direkt in der künstlerischen Gestaltung nieder.15 Die sogenannte Arabeske, Pflanzenmotiv in abstrahierter und geometrisierter Form, stellt ebenfalls ab dem 12. Jahrhundert ein omnipräsentes Merkmal in der Kunst der gesamten islamischen Welt dar und „wurde für Jahrhunderte zum bestimmenden Element des Flächendekors.“16 Die unendliche Wiederholung von Ornamenten wurde oftmals „als Hinweis auf die göttliche Ordnung des Kosmos […] oder im Sinne einer Zahlensymbolik [gedeutet].“17 Die besondere Wertschätzung arabischer Kalligrafie kann mit der herausragenden Stellung der Schrift in der islamischen Religion begründet werden,18 wodurch wiederum die Beziehung zwischen dem Koran und der islamischen Kunst hergestellt wäre.
Doch gibt es eine dezidiert islamische Ästhetik, und wenn ja, liegt sie in der Religion begründet?
Trotz der erwähnten, immer präsenten Merkmale der Ergebnisse islamischen Kunstschaffens spricht Korn von einem Wandel der „Ästhetik, Formen und Inhalte islamischer Kunst über die Jahrhunderte hinweg.“19 Der deutsche Islamwissenschaftler Michael Marx hingegen meint: „Ungeachtet aller regionalen und kulturellen Unterschiede hat die gemeinsame Religion eine unvergleichliche Ästhetik hervorgebracht, die weit über den islamischen Kulturkreis hinaus beeindruckt und staunen macht.“20
Marx begründet diese besondere islamische Ästhetik mit ihrem Ursprung im sogenannten Bilderverbot.21 Dieses hätten die islamischen Rechtsgelehrten nicht aus dem Koran, jedoch aus Traditionen und Überlieferungen abgeleitet.22 Dieses Bilderverbot galt Korn zufolge aber jeweils nur für den religiösen Bereich und selbst dort nicht umfassend. Immerhin hält er es für möglich, dass die Bildervermeidung im religiösen Bereich zu einer starken Weiterentwicklung der „bildlose[n] künstlerische[n] Gestaltung“23 beitrug.
Eine konträre Sichtweise hinsichtlich der Begründung einer islamischen Ästhetik vertritt der britische Philosoph Oliver Leaman. In seinem Werk Islamic Aesthetics: An Introduction (2004) räumt er mit, seiner Ansicht nach typischen, Irrtümern in Bezug auf die islamische Kunst auf. Beispielsweise negiert er die Möglichkeit, eine „Essenz des Islams“24 und daraus abgeleitet eine „Essenz der Islamischen Kunst“25 zu definieren, er spricht sich gegen die Ansicht aus, Islamische Kunst sei anders sowie außerdem geprägt von der Kalligrafie und einem horror vacui oder sie sei grundsätzlich mit dem Sufismus verbunden.26
Leaman wendet sich gegen Verallgemeinerungen in der Deutung islamischen Kunstschaffens und seiner Besonderheiten, wie beispielsweise bezüglich der erwähnten unendlichen Wiederholung von Mustern oder der Symbolik islamischer Gärten im Hinblick auf das Paradies. Er warnt vor Spekulationen, die eine speziell muslimische, psychologische Besonderheit hinter den verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen der islamischen Kultur erkennen wollen.27 Leaman spricht von „the orientalist obsession with generalization, an obsession that flourishes regardless of the great amount of contradictory evidence which accrues alongside it.“28 Auch der Kunsthistoriker Oleg Grabar (gest. 2011) warnt vor Interpretationen, die vielleicht oder wahrscheinlich gar nicht in der Intention der muslimischen Kunstschaffenden lägen. Und auch er spricht von „the orientalist sin of easy generalization“29. Beide, Grabar und Leaman, plädieren für Vorsicht bezüglich der weitverbreiteten Annahme, Islamische Kunst müsse mit speziell islamischen Ideen im Hintergrund kreiert worden sein oder islamischer Architektur lägen speziell islamische Formen und daraus abgeleitet eine religiöse Bedeutung zugrunde.30 Natürlich sind religiöse Themen vorhanden, doch für die ästhetische Qualität und die ästhetische Rezeption seitens der Betrachter spielen diese nach Leaman keine Rolle, weshalb es auch für Menschen ohne Bezug zum Islam oder überhaupt zu Religion möglich sei, die Schönheit und Ästhetik des betrachteten Objektes zu erkennen und zu genießen.31
Zusammenfassend kann man festhalten, dass es nicht zuletzt aufgrund der spärlich vorhandenen Literatur schwierig ist, eine speziell islamische Ästhetik zu definieren bzw. festzustellen, ob eine solche Definition überhaupt möglich oder sinnvoll ist. Ästhetik im Zusammenhang mit dem Islam wird normalerweise in Bezug auf die islamische Kunst thematisiert, wobei bereits dieser Begriff wieder hinterfragt werden könnte. Dazu Silvia Naef: „Der Begriff »islamische Kunst« ist eine Schöpfung des Orientalismus, der sich im 19. Jahrhundert als akademisches Fach etablierte; […] Er geht von der Einheitlichkeit der vom Islam geprägten Gebiete aus, wobei unterstellt wird, dass diese vornehmlich aus der Religion entstanden sei.“32
Abgesehen vom üblichen Bezug zwischen Ästhetik und Kunst besteht ein solcher unleugbar auch zwischen Ästhetik und dem Koran, was im Westen bisher eher unbeachtet geblieben ist. Dazu Kermani: „Jedoch stehen die Bedeutung und die Offensichtlichkeit dieses Faktums noch immer im Mißverhältnis zu dessen Resonanz in der Orientalistik, die es zwar schon früh bemerkt und gelegentlich formuliert hat, sich ihm jedoch erst allmählich und vereinzelt zuwendet.“33
Wir haben gesehen, dass bezüglich der Existenz(berechtigung) einer islamischen Ästhetik unterschiedliche Ansichten herrschen. Einerseits werden speziell islamische Besonderheiten im islamischen Kunstschaffen erkannt und diese als im Islam begründet erklärt, etwa mit einem Bilderverbot. Auf der anderen Seite wird eine speziell religiöse Bedeutung von Kunst- oder Bauwerken der islamischen Welt verneint bzw. wird eine solche als für die ästhetische Dimension irrelevant erachtet.
Schlussendlich liegt es im Auge des jeweiligen Betrachters, der Betrachterin, ungeachtet aller Definitionen und Interpretationen in der Schönheit der Motive der Iznik-Keramik oder jener der Ornamente und Kalligrafien an den Wänden einer Moschee eine zutiefst ästhetische Erfahrung und Erkenntnis zu erlangen.