Flucht und Schutzgewährung aus islamischer Perspektive
Islamisch-theologische Grundlagen und die Hiǧra
Vorab ist es wichtig, zwischen den Begriffen Vertriebene, Flüchtlinge (auch Asylsuchende) und MigrantInnen zu unterscheiden. Während Vertriebene (auch „Binnenvertriebene“ genannt) sich unfreiwillig innerhalb der nationalen Grenzen eines Landes bewegen, ziehen Flüchtlinge unfreiwillig von einem Land in ein anderes, um Schutz vor Verfolgung zu suchen oder vor Unsicherheit und Gewalt zu fliehen. MigrantInnen hingegen migrieren freiwillig, um sich anderswo in ihrem eigenen oder einem anderen Land niederzulassen.1 Der Fokus dieses Beitrags liegt auf Vertriebenen und Flüchtlingen, somit unfreiwillig auswandernden Menschen.
Asyl und Flucht sind im islamischen Kontext relevante Themen, insbesondere in der islamischen Geschichte:2 Im Jahr 622 unternahm der Gesandte Muhammad selbst, in Begleitung seines engsten Freundes Abū Bakr (gest. 634), die Auswanderung von Mekka nach Medina (arab. hiǧra) – ein Ereignis, das unter anderem zur Gründung der ersten, multiethnischen und multireligiösen muslimischen Gemeinschaft führte, die in der Folgezeit viele MigrantInnen aufnahm und sich als entscheidender Meilenstein in der Geschichte erwies. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung wurde die Auswanderung nach Medina wenige Jahre nach dem Ableben des Gesandten Muhammad zum Beginn der islamischen Zeitrechnung erklärt. Die aus Mekka ausgewanderten MuslimInnen wurden „muhāǧirūn“ (Auswanderer, Emigranten) genannt, wohingegen die ihnen Schutz gewährenden Menschen in Medina HelferInnen (arab. anṣār) genannt wurden. Die Auswanderung nach Medina bot eine Lösung angesichts der Feindschaft und Gefahr, die von der polytheistischen Gesellschaft in Mekka ausging.
Die grundlegende Koranstelle, die als Richtlinie für den Umgang mit Flüchtlingen im Islam dient, ist Koran 9:6:3
„Und wenn einer von jenen, die etwas anderem neben Gott Göttlichkeit zuschreiben, deinen Schutz sucht, gewähre ihm Schutz, auf daß er das Wort Gottes (von dir zu) hören (imstande sein) möge; und daraufhin geleite ihn zu einem Ort, wo er sich sicher fühlen kann: dies, weil sie Leute (sein mögen,) die (nur deshalb sündigen, weil sie die Wahrheit) nicht wissen.“4
Laut diesem Vers soll der Schutz auf alle Menschen ausgedehnt werden, die ihn suchen, unabhängig von ihrem Glauben, ihrer Kultur oder ihrer Herkunft. Muhammad Hamidullah (gest. 2002) formuliert es kurz und bündig: „Wenn ein Mensch um Asyl bittet, kann es auf keinen Fall verweigert werden.“5
Zudem findet sich innerhalb der islamischen Lehre eine hochentwickelte Struktur der Menschenrechtstradition, mit ethischen Lehren und rechtlichen Anordnungen zum Schutz und zur Behandlung von Flüchtlingen. Diese Lehren sind vor allem im Koran verankert, neben den Richtlinien und beispielhaften Taten des Gesandten Muhammad. Sie wurden später in den klassischen Rechtswerken zu Prinzipien ausgearbeitet. Im Zentrum dieser Prinzipien stehen Mitgefühl, Wohlergehen und die praktische Sorge gegenüber geflüchteten Menschen. Somit ist gemäß islamischen Prinzipien sowohl die Asylsuche als auch die Asylgewährung aufgrund der Menschenwürde gesichert, die nach dem Koran von Gott „den Kindern Adams“ zuerkannt wurde:6 „Nun haben wir fürwahr den Kindern Adams Würde verliehen […]“7
In Koran 2:84f. ist des Weiteren ausdrücklich die Verurteilung jener Menschen enthalten, welche die Flucht von anderen verursachen:
„Und siehe! Wir nahmen euer feierliches Versprechen an, daß ihr nicht einer des anderen Blut vergießen würdet und nicht einander aus euren Heimstätten vertreiben würdet – woraufhin ihr es anerkannt habt; und davon gebt ihr Zeugnis (sogar jetzt). Und doch seid ihr es, die ihr einander tötet und manche von euren eigenen Leuten aus ihren Heimstätten vertreibt, einander gegen sie helfend in Sünde und Haß […]“8
Stattdessen soll mit den Mitmenschen gut umgegangen werden:
„[….] Und tut Gutes euren Eltern und den nahen Verwandten und den Waisen und den Bedürftigen und dem Nachbarn von euren eigenen Leuten und dem Nachbarn, der ein Fremder ist, und dem Freund an eurer Seite und dem Reisenden und denen, die ihr rechtmäßig besitzt.“ 9
Wenn allerdings Gründe für eine Flucht gegeben sind, sollten die Menschen nach einem besseren Ort suchen, denn im Koran werden diejenigen, die sich damit abfinden, Unterdrückung und Erniedrigung zu erleiden, als Menschen, „die sich selbst Unrecht tun“,10 bezeichnet. Durch die ertragene Ungerechtigkeit würden sie ihrer Würde und Freiheit beraubt, welche ihre Existenz als Menschen ausmachen. Der Koran betont, dass die Erde von Gott für alle Menschen erschaffen wurde, geräumig mit Ressourcen ausgestattet ist und dass alle in der Lage sind, andere Länder oder Häuser zu finden, in denen sie in Würde und Freiheit leben können11:
„Und wie könntet ihr euch weigern, zu kämpfen für die Sache Gottes und der völlig hilflosen Männer und Frauen und Kinder, die rufen: ‚Oh unser Erhalter! Führe uns heraus (zur Freiheit) aus diesem Land, dessen Bewohner Unterdrücker sind, und erhebe für uns aus Deiner Gnade einen Schützer, und erhebe für uns aus Deiner Gnade einen, der uns Beistand bringen wird!“12
Es ist deutlich, dass in Übereinstimmung mit den Lehren des Korans sowohl eine moralische als auch rechtliche Verpflichtung für alle Menschen besteht, sei es als Einzelpersonen, Gruppen oder Staaten, andere Menschen, einschließlich Flüchtlinge, mit Respekt und Rücksicht zu behandeln, ungeachtet der Unterschiede des Glaubens, der Ethnie, der Kultur oder des sozialen Status. Da die Einhaltung dieser Vorgaben allerdings in der Praxis oft nicht realisiert wird, gibt es im Koran zahlreiche Bestimmungen, die dazu aufrufen, geflüchteten Menschen Schutz zu gewähren und ihnen zu helfen.
Islamisch-rechtliche Grundlagen
Personen, denen Schutz (arab. amān) gewährt wurde, haben nach traditionell islamischem Recht Anspruch auf eine Reihe von Rechten und Privilegien, die auf den islamischen Lehren basieren. An erster Stelle steht dabei das Recht auf Schutz und persönliche Sicherheit – einmal gewährtes Asyl kann in der Regel nicht widerrufen werden. Sollten Flüchtlinge das Hoheitsgebiet eines Landes verlassen wollen, sind die zuständigen Behörden rechtlich und ethisch verpflichtet, sie an einen Ort zu bringen, an dem sie sich sicher fühlen können. Abgesehen von dieser Option, also der Umsiedlung in ein Drittland, hatten Flüchtlinge in der islamischen Tradition auch Zugang zu zwei weiteren Optionen: der freiwilligen Rückführung sowie der Möglichkeit zur lokalen Integration in dem Land, das ihnen ursprünglich Asyl und Schutz gewährt hatte.13 Nach islamischem Recht hat damit jede flüchtende Person, ungeachtet der Religionszugehörigkeit, das Recht, in eine islamische Gemeinschaft einzutreten und Schutz zu erhalten.
Da allerdings diese traditionellen Normen heute kaum mehr Verwendung finden, unterscheidet sich die Regelung des modernen Flüchtlingsrechts davon und auch von Land zu Land sehr. Selbst wenn die Gewährung von Asyl aus islamischer Perspektive eine Pflicht und eine umfassende Form des Personenschutzes darstellt, ist das Thema territorial und politisch bedingt – kein modernes internationales oder nationales Instrument legt eindeutig fest, dass Einzelpersonen das Recht hätten, Asyl zu gewähren. Dieses Recht ist den Staaten vorbehalten, denen es freisteht, ein Asylansuchen zu billigen oder zu verweigern. Nur Staaten haben also das Recht zu entscheiden, wem Flüchtlingsstatus zuerkannt wird.14
Die Gebote des Korans sowie die Sunna des Gesandten Muhammad im Hinblick auf geflüchtete Menschen können jedoch als historische und theologische Gegenposition angesichts der heutigen Lage vieler Flüchtlinge herangezogen werden. Denn viele mehrheitlich muslimische Nationalstaaten haben erst wenig getan, um dieses ethische Verständnis von Flucht und Schutz wiederzubeleben und ihr Handeln in diesem Sinne zu ändern; während zum Beispiel viele mehrheitlich muslimisch geprägte Staaten zwar Verträge, wie zum Beispiel die Kairoer Erklärung über die Menschenrechte im Islam von 1990, unterzeichnet haben, wurden dennoch einige Gesetze, insbesondere zur Flüchtlingsthematik, nicht in die Praxis umgesetzt.15
Fazit
Flucht und Schutzgewährung sind aus islamischer Perspektive wichtige Themen. Hierbei stehen einerseits das geschichtliche Ereignis der Auswanderung des Gesandten Muhammad nach Medina, die Hidschra, im Fokus, sowie andererseits die koranischen Lehren, welche die MuslimInnen zur Hilfestellung gegenüber bedürftigen, geflüchteten Menschen auffordern. Der Koran betont den Schutz und die gute Behandlung von Flüchtlingen, legitimiert durch die Menschenwürde. Aufgrund dessen sind MuslimInnen moralisch und rechtlich verpflichtet, Flüchtlingen zu helfen und ihnen Schutz zu gewähren. Diese sollten nach Möglichkeit nach neuen Wohnorten suchen, falls der Schutz im aktuellen Aufenthaltsland nicht gewährleistet ist. Auf der anderen Seite sollten MuslimInnen Schutzsuchende nicht abweisen, sondern ihnen in ihrer schwierigen Lage so gut wie möglich helfen.
Da Asyl- und Schutzgewährung allerdings in den meisten Staaten staatlich und nicht individuell erfolgt, liegt diese Entscheidung nicht in den Händen der einzelnen Menschen, weswegen vom traditionell islamisch-rechtlichen Verständnis heute kaum mehr Gebrauch gemacht werden kann.