Die Hidschra. Der Beginn einer neuen Ära

Artikel 09.10.2023 Redaktionsteam

Der vorliegende Beitrag bietet einen Überblick über die Hidschra, die einen wichtigen Meilenstein in der Geschichte des Islams darstellt. Nach einer allgemeinen Einführung wird auf die Etymologie des Terminus Hidschra mit Fokus auf den Koran näher eingegangen. Anschließend wird der geschichtliche Ablauf der Hidschra aufgezeigt, gefolgt von einem Fazit.


Einleitung

Mit Hidschra (hiǧra) bezeichnet man üblicherweise die Auswanderung des Gesandten Muhammad und der ihn begleitenden MuslimInnen von Mekka nach Medina (früher: Yaṯrib) im September des Jahres 622 n. Chr. Der moderne arabische Begriff hiǧra leitet sich von der trikonsonanten Wurzel h-ǧ-r ab und bedeutet schlichtweg Ausreise, Auswanderung, Emigration oder auch Migration.1 Hidschra bezeichnet jedoch nicht nur Muhammads Ausreise bzw. Flucht aus Mekka, sondern ebenso die Emigration seiner AnhängerInnen bereits in den Jahren 615 und 616 ins christliche aksumitische Reich, genauer nach Äthiopien. Zudem fand der Begriff nach dem Ableben Muhammads für die Anwerbung von Soldaten für die expandierenden arabischen Armeen Anwendung.2 Gegenwärtig gebrauchen einige zeitgenössische Fundamentalisten diesen Begriff, um das Verlassen feindseliger gesellschaftlicher, politischer oder staatlicher Ordnungen zu bezeichnen.3

Etymologisch gesehen bezieht sich der Terminus hiǧra ursprünglich auf den Abbruch aller Beziehungen zwischen einer Einzelperson und einer protegierenden Gesellschaftsgruppe (Clan, Großfamilie, Stamm etc …). Der Abbruch derartiger Stammes- bzw. Verwandschaftsbindungen war für die damaligen Verhältnisse in Arabien ein schwerwiegender Vorgang, da der Einzelne dadurch den Schutz seiner Verwandtschafts- oder Patronatsgruppe verlor. Er ist somit den Angriffen seiner GegnerInnen schutzlos ausgeliefert und hat keine Möglichkeit mehr, sich auf die Regeln der Blutrache zu berufen.4

Infolgedessen ist es nur konsequent, dass MuslimInnen ihre Zeitrechnung mit der Hidschra beginnen lassen. Allerdings wurde (rückwirkend) nicht der Tag der eigentlichen Auswanderung Muhammads als Jahresanfang des islamischen Kalenders (at-taqwīm al-hiǧrī) ausgewählt, sondern der erste Tag jenes Mondjahres, in dem sie stattfand. Als Ausgangspunkt für die islamische Zeitrechnung dient somit der 1. Tag des Monats Muḥarram.5 Nach christlicher Zeitrechnung  entspricht dies dem 16. Juli 622. Islamische Jahreszahlen werden üblicherweise mit dem Zusatz AH (= anno hegirae) oder auch vereinzelt im Deutschen d. H. (= [im Jahr] der Hidschra) versehen.Offiziell wurde dieser Kalender im Jahr 638 unter dem zweiten Kalifen ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb (gest. 644) eingeführt.7 Bis dahin erfolgte eine Zeitrechnung ab dem Jahr 570, welches als das sogenannte Jahr des Elefanten (ʿāmm al-fīl) geläufig war und gleichzeitig als das vermutliche Geburtsjahr Muhammads gilt.8

Die Hidschra im Koran

Das Wort hiǧra kommt in dieser Form nicht im Koran vor.9 Der Prophet Lūṭ verkündet in Koran 29:26: „Ich werde zu meinem Herrn auswandern.“10 Er ist der einzige ältere Prophet, dessen Auswanderung im Koran explizit erwähnt wird. Bezüglich des Propheten Ibrāhīm heißt es lediglich in der Sure aṣ-Ṣāffāt: „Ich will (jetzt) zu meinem Herrn gehen. Er wird mich rechtleiten.“11 Der Gesandte Muhammad selbst wird indirekt nur ein einziges Mal als Auswanderer – durch das arabische Verb hājara (auswandern) gekennzeichnet – tituliert: „Prophet! […] die Töchter deines Onkels und deiner Tanten väterlicherseits und deines Onkels und deiner Tanten mütterlicherseits, die mit dir ausgewandert sind; […].“12

Im Koran wird allerdings eine genau definierte Gruppierung von AuswanderInnen adressiert: diejenigen, die bereits ausgewandert sind oder kurz vor einer Migration stehen.13 Im Koran heißt es über diese AuswanderInnen, dass sie „die wahren Gläubigen sind“ (8:74), „bei Gott in höherem Ansehen stehen“ (9:20) und „auf die Barmherzigkeit Gottes hoffen können“ (2:218). Außerdem werden „ihre schlechten Taten getilgt“ (3:195) und „Gott hat Wohlgefallen und hat für sie Gärten bereit, in deren Niederungen Bäche fließen“ (9:100).14 In der Tat werden die Auswanderung und das Bestreben für die Sache Gottes (fī sabīli llāh) mehrmals zusammen erwähnt (Sure 2:218; 3:195; 4:100; 8:72; 9:20).15 Man könnte meinen, sie implizieren einander. Interessanterweise gibt es einen Vers im Koran in der Sure al-Muddaṯṯir, der den Begriff Hidschra nicht für die Auswanderung verwendet, sondern für den Bruch mit schlechtem Verhalten wie Beigesellung und Götzenverehrung: „und meide die Besudelung (durch den Götzendienst?)“.16

Geschichtlicher Hintergrund der Hidschra

Die Hidschra stellte einen äußerst bedeutenden Einschnitt im Leben und Schaffen des Gesandten Muhammad dar. Als Muhammad seine ersten Offenbarungen von Gott erhielt, stand er vor der großen Herausforderung, die Bevölkerung Mekkas von seiner Prophetenschaft zu überzeugen. Obwohl sich zügig dutzende AnhängerInnen um ihn versammelten, waren die neuen Lehren Muhammads insbesondere den Führern seines Stammes und den wohlhabenden Kaufleuten suspekt. Sie weigerten sich vehement, den strikten Monotheismus des Islams zu akzeptieren. Die Lage seiner jungen Anhängerschaft in Mekka wurde immer schwieriger, weil sie mit der Zeit von den einheimischen MekkanerInnen diskriminiert, bedroht und teilweise auch physisch angegriffen wurden.

Muhammad, der in Mekka nach und nach aufgrund von Drohungen und Widerständen unter großem gesellschaftlichen sowie psychischen Druck stand, traf sich nun in dem nahegelegenen Ort ʿAqaba mit PilgerInnen aus Yaṯrib, die zwischen 620 und 622 nach Mekka reisten und den Islam annahmen,.17 Dort schloss er mit ihnen zwei bedeutsame Schutzverträge ab. Nach dem ersten Abkommen von ʿAqaba (621) wanderten MuslimInnen in kleinen Gruppierungen in die 400 Kilometer nördlich gelegene Oase Yaṯrib aus, nach dem zweiten (622) noch einmal in größeren Gruppen.18 Die Spannungen in Mekka erreichten einen kritischen Höhepunkt, nachdem ein Stammesrat beschlossen hatte, junge Männer aus allen Clans der Quraiš zu mobilisieren, um den Gesandten zu töten. Muhammad gelang es jedoch, die Stadt rechtzeitig zu verlassen. Er und sein enger Gefährte Abū Bakr (gest. 634) trafen nach einer riskanten und beschwerlichen Reise am 24. September 622 in Yaṯrib ein.19

Nach seiner Ankunft in Yaṯrib fand sich Muhammad in einer völlig anderen Situation wieder. Während er in Mekka von den meisten seiner Landsleute abgelehnt wurde, empfingen ihn die BürgerInnen von Yaṯrib mit offenen Armen.20 Die sog. HelferInnen (anṣār) in Yaṯrib boten ihm und seinen AnhängerInnen aus Mekka, die Auswanderer (muhāǧirūn) genannt, Schutz und Unterstützung. Die MuslimInnen schufen dort ein neues soziales System, eine neuartige Kultur des Miteinanderlebens.21 Yaṯrib wurde ab dieser Zeit als die erleuchtete Stadt (al-madīna al-munawwara), kurz Medina, bezeichnet.

Nichtsdestotrotz herrschte in der Folge auch in Medina eine generationenlange Fehde zwischen verschiedenen jüdischen und arabischen Stämmen bzw. Parteien auf beiden Seiten, welche zunehmend den sozialen Frieden störte. Muhammad positionierte sich als unparteiischer Vermittler und bot an, in den anhaltenden Konflikten zu intervenieren. Er forderte jedoch als Gegendienst die Unterordnung der medinensischen Bevölkerung unter seine religiöse Autorität.22 Diese Bedingung wurde von den MedinenserInnen akzeptiert und Muhammad überzeugte sie, einer von ihm entworfenen Gemeindeordnung von Medina (ṣaḥīfat al-madīna) zuzustimmen, welche die künftigen Beziehungen zwischen den Stämmen regelte. In Medina entwickelte sich Muhammad vom Prediger und Mahner, in rein religiöser Funktion, zum geschickten Feldherrn und geachteten Staatsmann unter Beibehaltung seiner religiösen Autorität.

Fazit

Die Hidschra markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des Islams. Mit der Hidschra begann nicht nur eine neue Ära der Entfaltung des Islams, sondern auch die Etablierung eines islamischen Staates. Die Hidschra wird in der islamischen Geschichte als ein Akt der Selbstbehauptung und als Beginn des politischen Engagements der MuslimInnen angesehen.23 Die Migration nach Medina ermöglichte es dem Gesandten Muhammad, eine starke, umfassende Gemeinschaft aufzubauen sowie eine politische und rechtliche Struktur zu etablieren, die ausschließlich auf den Glaubenslehren des Islams basierte. Dies führte zur Bildung einer muslimischen Gemeinschaft, der Umma, die politisch, sozial und religiös vereint war. Die Hidschra hat demzufolge maßgeblich dazu beigetragen, dass sich der Islam als Weltreligion etablierte.24 Darüber hinaus war die Hidschra ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der islamischen Theologie und der islamischen Normenlehre. Die Konstitution von Medina, die von Muhammad entworfen wurde, regelte die Beziehungen zwischen den verschiedenen Stämmen und Parteien und führte zu einer politischen Stabilität, die bis heute in der islamischen Welt als Vorbild angestrebt wird. Insgesamt kann man sagen, dass die Hidschra ein äußerst bedeutsames Ereignis in der islamischen Geschichte darstellt, das bis heute großen Einfluss auf die Entwicklung des Islams und im weitesten Sinne auch auf die Lebensrealität der MuslimInnen hat.

 

1 Vgl. Hans Wehr/Lorenz Kropfitsch: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch – Deutsch, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020, S. 960.

2 Vgl. Wim Raven, “Hijra”, in: Encyclopaedia of Islam, THREE, Edited by: Kate Fleet, Gudrun Krämer, Denis Matringe, John Nawas, Devin J. Stewart.

3 Vgl. bpd.de: Kleines Islam-Lexikon. Hijra, https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/islam-lexikon/21439/hijra/, abgerufen am 03.03.2023.

4 Vgl. Adel Theodor Khoury/Ludwig Hagemann/Peter Heine: Islam-Lexikon A–Z: Geschichte – Ideen – Gestalten, Freiburg: Herder 2006, S. 281.

5 Vgl. ebd.

6 Vgl. Meyers Großes Konversationslexikon (6. Auflage, 1905–1909), digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, https://www.woerterbuchnetz.de/Meyers, abgerufen am 16.09.2023.

7 Vgl. Yves Thoraval: Lexikon der islamischen Kultur, Hamburg: Nikol 2005, S. 138.

8 Vgl. ebd.

9 Vgl. El3 s. v. “Hijra”.

10 Rudi Paret: Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret, Stuttgart: Kohlhammer 1979.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Vgl. El3 s. v. “Hijra”.

14 Vgl. R. Paret 1979.

15 Vgl. El3 s. v. “Hijra”.

16 Vgl. Richard Heinzmann (Hg.): Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam (= Auftrag der Eugen-Biser-Stiftung, Bd. 2), Freiburg-Basel-Wien: Herder 2013, S. 219.

17 Vgl. ebd.

18 Vgl. ebd.

19 Vgl. ebd.

20 Vgl. ebd., S. 220 f.

21 Ebd.

22 Vgl. bpd.de: Islam und Politik. Historische Entwicklung, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/info-aktuell/24929/historische-entwicklung/, abgerufen am 06.03.2023.

23 Vgl. spektrum.de: Der Islam. Grundlagen. Die Hidschra, https://scilogs.spektrum.de/der-islam/die-hidschra/, abgerufen am 28.09.2023.

24 A. T. Khoury/L. Hagemann/P. Heine 2006, S. 282.

Buhl, Frants: Das Leben Muhammeds. Deutsch von Hans Heinrich Schaeder, Heidelberg: Quelle & Meyer 1955, https://menadoc.bibliothek.uni-halle.de/inhouse-vgg/content/titleinfo/4670298 (abgerufen am 28.09.2023).

Krenkow, Fritz: »The topography of the Hijrah«, in: Islamic Culture 3 (1929), S. 357-364.

Raven, Wim, “Hijra”, in: Encyclopaedia of Islam, THREE, Edited by: Kate Fleet, Gudrun Krämer, Denis Matringe, John Nawas, Devin J. Stewart.

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