Islamische Befreiungstheologie
In der westlichen Vorstellung ist der Ausdruck „Befreiungstheologie“ im Allgemeinen mit einer christlich-theologischen Strömung verbunden, die in den 1960er Jahren in Lateinamerika entstanden ist.1 Geprägt wurde der Begriff vom peruanischen katholischen Priester und Theologen Gustavo Gutiérrez. Im Zentrum dieses theologischen Ansatzes stehen die Menschen am Rande der Gesellschaft und deren Befreiung aus sozialer, wirtschaftlicher und politischer Unterdrückung.2
Dass auch andere Religionen eine Theologie der Befreiung hervorbringen können bzw. ihnen eine befreiungstheologische Komponente innewohnt, scheint Vielen als Möglichkeit nicht denkbar.3 Der spanische katholische Theologe und Religionswissenschaftler Juan José Tamayo spricht diesbezüglich von einem Ausschluss anderer religiöser und kultureller Traditionen aufgrund der vorurteilsbasierten Unterstellung, „befreiender Dimensionen zu ermangeln und nicht fähig zu sein, einen emanzipatorischen Diskurs in Gang zu setzen."4 Besonders sei dies in Zusammenhang mit dem Islam der Fall, welcher beeinflusst von Samuel Huntingtons These vom Kampf der Kulturen als eine „fundamentalistische, patriarchale, ritualistische und fanatische Religion“5 angesehen werde; Tamayo zufolge „eine ideologische Konstruktion […] durch den christlichen Okzident und das Christentum selbst“6.
Angesichts des gegenwärtigen „religiösen Pluriversum[s]“7 scheint nun die Zeit gekommen für eine neue, interkulturelle und interreligiöse Art von Befreiungstheologie. Insbesondere eine islamisch-christliche Theologie der Befreiung als eine „Theologie, die zur Transformation der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen, zu einer Veränderung der Mentalität, der Haltungen und der Praxis der Gläubigen beider Religionen und zu einem auf Gerechtigkeit aufbauenden Frieden beiträgt“8, kann in Anbetracht der Tatsache eines mehr als fünfzig prozentigen Anteils von christlichen und muslimischen Gläubigen an der Weltbevölkerung als wichtig und notwendig erachtet werden. Islam und Christentum werden – wie Tamayo betont – beide von einem „ethischen Monotheismus“, einer „Praxis der Gerechtigkeit“ und einer „Solidarität mit den Ausgeschlossenen“ geprägt und in den Schriften und der Geschichte beider Religionen gibt es „befreiende Traditionen“9.
Auf dieser Basis und angeordnet um die Themen Gott, Mystik, Ethik, Wirtschaft sowie interkultureller und interreligiöser Dialog entwirft Tamayo seine Idee einer islamisch-christlichen Theologie der Befreiung.10
Als Beispiel sollen hier die Themen Ethik und Wirtschaft kurz herausgegriffen werden. Tamayo schreibt in diesem Zusammenhang: „Die befreiende Ethik des Christentums und des Islams konkretisiert sich in der Absage an die unersättliche Anhäufung von Gütern und in einer solidarischen Praxis, die es auf die ökonomische Ebene zu übersetzen gilt.“11
Jesus verurteile den „ungerechten Mammon“12, den „Reichtum, der aus ungerechten ökonomischen Praktiken hervorgeht.“13 Ebenso müsse sich im islamischen Kontext Ökonomie „nach der Ethik richten“14. Der Islam übe unter anderem mit seiner Verurteilung von Wucher (ribā) „ernste Kritik an den ungerechten ökonomischen Praktiken“15, anwendbar auch „auf das heutige neoliberale Wirtschaftsmodell.“16 Hier ist anzumerken, dass natürlich kein Zweifel an der Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, sowohl in der islamischen als auch in der christlichen Welt, besteht.
Angesichts dieses soeben betrachteten Konzepts Tamayos von einer gemeinsamen, christlich-islamischen Theologie der Befreiung stellt sich die Frage, ob und wie eine eigenständige, speziell islamische Befreiungstheologie definiert werden kann, die den Fokus auf die Armen, Unterdrückten und Marginalisierten der Gesellschaft richtet. Allgemeine, den Menschen befreiende Ansätze bieten auch andere islamisch-theologische Richtungen wie die islamisch-feministische Theologie, zu deren Vertreterinnen beispielsweise Amina Wadud und Asma Barlas zählen. Auch die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi (gest. 2015) ist hier zu erwähnen. In Ablehnung von Zwang und politischem Missbrauch im Kontext der Religion fordert sie „als größte Ehre für Gott […] den Gebrauch der rechten Vernunft“17, welcher „den aufrechten Gang in Freiheit“18 zum Ziel habe.19 Den Ruf nach grundsätzlicher, persönlicher Freiheit für alle Menschen, ungeachtet des Religionsbekenntnisses, begründet der tunesische Denker Mohamed Talbi (gest. 2017) aus seinem Islam- und Koranverständnis heraus.20
Eine islamische Befreiungstheologie kann indes folgendermaßen definiert werden: „Befreiungstheologie ist eine Theologie, die wie jede Theologie von der Suche nach dem Transzendenten handelt. Diese Suche aber hat ihren Ort insbesondere unter den Marginalisierten.“21
Diese Definition stammt vom prominentesten islamischen Befreiungstheologen, dem südafrikanischen Theologen Farid Esack. Selbst Opfer der Apartheidspolitik war er Mitbegründer der 1984 gegründeten Anti-Apartheid-Organisation „Call of Islam“. 1997 erschien sein grundlegendes Werk „Qur‘an, Liberation and Pluralism“. Esack betrachtet Glauben immer im Kontext der Geschichte. Der Koran als Gottes Wort befinde sich ebenso wie auch dessen Interpreten stets in Abhängigkeit gegenüber einer bestimmten Zeit mit den jeweiligen gesellschaftlichen Umständen.22 Esack steht für „einerseits ein heuristisch offen und pluralistisch konzeptionalisiertes und andererseits an den konkreten Kämpfen der Armen und Marginalisierten beteiligtes und durch eben diese Auseinandersetzungen abgeleitetes Islamverständnis […], welches nicht von dem Willen der Macht eingenommen werden kann.“23
Seit dem Ende der Apartheid in Südafrika setzt sich Esack unter anderem für Geschlechtergerechtigkeit, für Aidskranke und die Rechte von Homosexuellen ein. So war er unter Nelson Mandela Mitglied der Commission for Gender Equality der südafrikanischen Regierung und begründete die Positive Muslims mit, eine Organisation, die in Beratung und Hilfestellung von HIV-infizierten MuslimInnen tätig ist. Er kämpft für soziale Gerechtigkeit und gegen jede Form von Diskriminierung, übt heftige Kritik nicht nur am Westen, sondern auch an westlichen, kapitalistisch orientierten MuslimInnen. Die von ihm gezogenen Parallelen zwischen der südafrikanischen Apartheidspolitik und der israelischen Palästinapolitik werden allerdings stark kritisiert. Sein Engagement in der anti-israelischen Boykottbewegung BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) trug ihm den Vorwurf des Antisemitismus ein, den er jedoch zurückweist.24
Farid Esack ist nicht der einzige islamische Befreiungstheologe, ein weiteres Beispiel ist der tunesische Philosoph Kacem Gharbi. Er begründet die Notwendigkeit einer Befreiungstheologie damit, dass sich Systeme von Ungerechtigkeit und Unterdrückung oftmals der Religion als Legitimationsinstrument bemächtigen. Solche Unterdrückungssysteme und ihre religiöse Begründung gelte es mithilfe der Befreiungstheologie zu delegitimieren. In Bezug auf die Entstehung und Entwicklung einer islamischen Befreiungstheologie nennt Gharbi Mahmoud Taha (Sudan, gest. 1985), Ali Shariati (Iran, gest. 1977) und Hasan Hanafi (Ägypten) als wichtige Impulsgeber:25 „Sie haben es geschafft, durch die Anwendung der marxistischen Analyse den religiösen Erzählungen neue Perspektiven zu geben.“26
So könne etwa die Geschichte von Kain und Abel aus befreiungstheologischer Perspektive als Konflikt zwischen einer Klassengesellschaft (für welche der Landwirt Kain steht) und einer klassenlosen Gesellschaft (symbolisiert durch den Hirten Abel) gelesen werden. Die „muslimisch-befreiungstheologische Vision“27 sei eine wahrhaft gerechte Gesellschaft, in der Menschen in „einer gegenseitigen solidarischen Verantwortung“28 leben und in der „die Quellen des Lebens und der gemeinsamen Organisierung des Lebens gleich geteilt werden müssen“29. Seitens der islamischen Befreiungstheologie gelte es aufzuzeigen, „dass der Islam in seinem Fundament – wenn auch nicht in seiner Geschichte – sozialistisch war“.30 Gharbi sieht diese Richtung der islamischen Theologie derzeit noch als „ein Phänomen unter islamischen Intellektuellen“31, es fehle noch „eine breite Unterstützung an der Basis der Bevölkerung, gerade auch unter den Verarmten“32.
Das Besondere an Befreiungstheologie nicht nur islamischer Prägung, sondern verschiedener Ursprünge ortet die Islamwissenschaftlerin Muna Tatari in dem „paradigmatische[n] Wechsel, den die Theologien der Befreiung vollzogen haben, indem sie zum einen nicht mehr in erster Linie nach dem Bestehen des Menschen vor Gott fragen, sondern die Beziehung zu den Mitmenschen und der Schöpfung zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen und zum anderen nunmehr Praxis als grundlegend für die Dogmatik verstanden wird und nicht mehr als getrennt zu sehendes Gegenüber oder Derivat.“33