Kurze Einführung in die Methodologie der islamischen Rechtsfindung

Artikel 11.10.2017 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der Methodenlehre der islamischen Rechtsfindung – auch bekannt als uṣūl al-fiqh (Arab.: „die Wurzeln des fiqh“). Zunächst wird der Begriff des fiqh ins Verhältnis zu dem der Scharia gesetzt, um in einem weiteren Schritt eine Annäherung an die Methodik der Rechtsfindung zu unternehmen und auf Autoritäten der Rechtsfindung hinzuweisen.


Die Methodik zur Rechtsfindung im Hinblick auf das islamische Recht1 bettet sich ein in eine relativ komplexe Struktur, die die gesamte Normenlehre des Islam umfasst. Der Begriff der „Normen“ lässt bereits erkennen, dass es sich hier nicht nur um rein juridische Zusammenhänge handelt, sondern ein allgemeinerer Rahmen ethisch-religiöser Regeln, eine Vorstellung vom richtigen, im Sinne von gottgefälligem Handeln mitgedacht werden muss. Die islamische Normenlehre ist verwoben mit sowohl weltlichen als auch religiösen Dimensionen menschlichen Daseins. Sie bietet so eine Projektionsfläche, die in hohem Maße anfällig für Fehldeutungen und Verkürzungsfehler ist, wenn sie nicht als ganzheitlicher Komplex wahrgenommen und erklärt wird. Dies stellt nicht nur für die kognitive Verständnisebene eine größere Herausforderung dar, sondern kann auch zu einer (negativen) Instrumentalisierung von bestimmten – zunächst neutralen – Begriffen aus dem Bereich des islamischen Rechts im Rahmen des öffentlichen und v. a. medialen Diskurses führen. Diesem allgemein recht intransparenten und z. T. sorglosen Umgang mit Begrifflichkeiten soll der folgende Artikel eine Hilfe zur Versachlichung der Debatte gerade in Schulen und Medien entgegensetzen bzw. für interessierte LeserInnen eine Ergänzung zum allgemeinen Diskurs bieten.

 

Zunächst scheint es wichtig, einen virulenten Begriff wie den der Scharia2 näher zu beleuchten und diesen in Bezug zu setzen zum oben bereits erwähnten Begriff des fiqh bzw. der uṣūl al-fiqh3. Denn wird von islamischem Recht bzw. Rechtsgutachten gesprochen, so verbinden das viele Menschen zunächst mit der Scharia. Dies ist nicht ganz falsch – es ist jedoch auch nicht ganz richtig und erfordert eine Differenzierung:

Die Scharia kann entgegen dem Bild, ein festgeschriebenes rechtliches System darzustellen, beschrieben werden als eine dem Menschen (ob gläubig oder nicht) niemals gänzlich zugängliche gottgegebene Ordnung. Die Scharia beinhaltet somit unveränderliche göttliche Normen, die nur z. T. menschlich erfassbar sind. Rechtsgelehrte versuchen anhand von Texten4 und ihrer fundierten fachlichen Ausbildung, diese göttlichen Beurteilungen (diese werden Arab. mit ukm, Pl. aḥkām bezeichnet5) des menschlichen Handelns methodisch korrekt in Bestimmungen rechtlichen Charakters auf die Ebene des irdischen Zusammenlebens und Kommunizierens zu übersetzen, ohne dabei die gottgegebene Ordnung zu verletzen: Das Ergebnis dieser Arbeit nennt man fiqh, von der gleichen Wortwurzel leitet sich auch die Bezeichnung des Rechtsgelehrten als faqīh (Pl. fuqahāʼ) ab. Der fiqh, die islamische Rechtswissenschaft, ist somit aufs Engste verbunden mit schariatischem Denken, jedoch keinesfalls mit der Scharia gleichzusetzen und daher auch begrifflich nicht synonym zu gebrauchen. Durch den fiqh wird ein Teil der Scharia dem Menschen zugänglich als juridische oder ethisch-religiöse Regeln6. Dies erklärt auch die hohe Wertigkeit, die Beurteilungen von Rechtsgelehrten zukommt bis hin zu kleinen Alltagsfragen: Es ist ein Weg, sich gottgefällig zu verhalten. Der Akt des Bemühens um rechtliche Beurteilungen7 in Einklang mit den islamischen Quellen Koran und Sunna (im Falle der Schia zusätzlich der Tradition der Imame) und auf Basis der eigenen rationalen Denk- und Kombinationsleistung wird mit iǧtihād8 umschrieben9. So erhält die menschliche Vernunft neben den normativen Texten der Offenbarung und der Tradition des Propheten eine wichtige Rolle in der Rechtsfindung10. Sie kommt jedoch v. a. dann zum Einsatz, wenn es sich widersprechende Hadithbezüge gibt oder ein Fall nicht klar zu beurteilen ist – seit aš-Šāfiʿīs risāla (vgl. Endnote 10) hat die Jurisprudenz hier oftmals diese methodische Wurzel mit der des Analogieschlusses fast identisch gesetzt11 und so den eigenen Spielraum des jeweiligen Gelehrten relativ kleingehalten. Der iǧtihād kann als das Gegenteil und das Gegengewicht zu einer methodischen Wendung gelten, die mit dem qiyās zur Gefahr wird: das bloße Nachahmen, Nachfolgen (im Arab. Terminus taqlīd) bereits zuvor gefällter Urteile oder deren Herleitung. Damit verbunden wäre dann ein schleichender Prozess hin zu einem völligen Erstarren der Rechtsfindungsprozesse, ihr dynamischer Charakter würde verloren gehen. Auch die Anwendung früherer Entscheidungsprozesse auf aktuelle Fälle würde zu einer größeren Vergangenheitsorientierung führen.

Nur ein Teil des fiqh beschäftigt sich mit einklagbaren rechtlichen Bestimmungen, weshalb auch nur ein Teil direkt vergleichbar ist etwa mit europäischen Rechtssystemen. Dieser Teil behandelt etwa einzelne Bestimmungen des angewandten Rechts12 in Bereichen wie Ehe-, Bodenrecht o. Ä. Darüber hinaus gibt es Ausführungen, z. B. wie das korrekte Gebet zu verrichten sei oder auch anthropologische Grundlagen der Ethik etc., die aber beispielsweise strafrechtlich nicht verfolgbar wären. Sie zählen jedoch zur islamischen Normenlehre und betreffen sogar einen Großteil der rechtlichen Einschätzungen der fuqahāʼ, da sie für das Alltagsleben von Gläubigen13 hoch relevant sind.

Nun geben die fuqahā‘ ihre rechtlichen Beurteilungen nicht in willkürlicher Haltung ab. Um einzelne menschliche Handlungen oder Zustände rechtlich im Sinne der Scharia bewerten zu können, ist eine Methodik der Rechtsfindung notwendig, welche wiederum ebenfalls begründet sein muss: Hier nun werden die Wurzeln des fiqh, uṣūl al-fiqh14), relevant. Die islamische Methodik zur Rechtsfindung kann als ein dynamisches Interpretationssystem beschrieben werden: Es etabliert ständig neue Unterverbindungen zwischen einzelnen Methoden, um den Rahmen des islamischen Rechts stets wahren zu können – d. h., eine organische Verbindung zwischen schariatischem Bezug, den Alltagsfragen der Praktizierenden und den rechtlichen Beurteilungen für diese einzelnen Dilemmata zu erreichen. Dieses Ziel erfordert methodische Wege, die eine systematische und gleichzeitig flexible Interpretationspraxis erlauben. Sie muss sowohl die Tradition und Normen sowie die sich ändernde irdische Realität und ihre Herausforderungen an den Menschen gleichermaßen berücksichtigen. Neben dem Prinzip des iǧtihād gelten zwei weitere wichtige Grundsätze für das methodische Vorgehen in der islamischen Rechtsfindung: Erstens geht der Konsens der Gelehrten15 (im Arabischen mit iǧmāʿ beschrieben) davon aus, dass es eine wichtige Orientierung für die Entscheidung in Rechtsfragen und auch künftige Behandlung bestimmter Dilemmata sein kann, wenn mehrere Gelehrte einer Rechtsschule in einem bestimmten Punkt zum gleichen Ergebnis in der Rechtsfindung gelangen. Zuletzt ist der oben bereits kurz erwähnte Analogieschluss (im Arabischen qiyās) als wichtige methodische Wendung zu nennen, die sich an bereits gefällten Beurteilungen früherer Gelehrter orientiert und durch deren Einbeziehung man zu Ergebnissen für aktuelle ähnliche Fälle gelangt. Ferner finden zwei Methoden der Rechtsfindung, die v. a. zu Zeiten des Propheten und der frühen muslimischen Gemeinde praktiziert wurden, z. T. bis heute Anwendung: Persönliches Urteil aufgrund von selbständiger Rechtsfindung, falls es keine rechtlichen Maßgaben oder Hinweise darauf in den islamischen Quellen gibt (im Arabischen mit dem Terminus ra’y beschrieben16), sowie das Gewohnheitsrecht (Arab.: urf oder āda).

Um weitere Details zu erfahren, eignen sich zum Weiterlesen die Artikel zu iǧmāʿ und qiyās (werden noch veröffentlicht) – v. a. letzterer wird deutlich machen, was die Flexibilität der islamischen Rechtsfindung ausmacht. Dadurch wird  nachvollziehbar, wie sehr die Rede von der Scharia in Medien und Öffentlichkeit, die ein festes Gesetzeskompendium dahinter vermuten lässt, in die Irre führt: Diese vereinfachende Darstellung verbirgt nicht nur die eigentliche Anpassungsfähigkeit des islamischen Rechts, die durch die klassischen Rechtsfindungsmethoden gesichert wird, sondern auch die Komplexität der Rechtsfindungsprozesse und die hohe fachliche Kompetenz, die Spezialisten mitbringen müssen, um diese durchführen zu können. Nicht nur die Öffentlichkeit sollte daher skeptisch sein, wenn wieder einmal über die Scharia in allzu verkürzter Form gesprochen wird, auch MuslimInnen müssen stets genau hinsehen, welche Kenntnisse jemand mitbringt, der rechtliche Einschätzungen in religiösen Fragen zur Verfügung stellt.

1 Zum Begriff des islamischen Rechts vgl. Lohlker, Rüdiger (2012): Islamisches Recht. Wien: UTB facultas wuv.

2 Der Begriff der Scharia hat bereits eine eingedeutschte Schreibweise im Duden, was darauf hinweist, dass er eine hohe Nennungsfrequenz aufweist. Dies wirft umso mehr die Frage danach auf, ob die häufige Nennung nicht eher zu einer Verwischung der tatsächlichen Bedeutungszusammenhänge beiträgt – oftmals suggeriert der Gebrauch des Begriffs ohne weitere inhaltliche Erklärungen, dass er dem Gros etwa einer Leserschaft bereits zur Genüge bekannt sei.

3 Vgl. dazu ebenfalls Lohlker (2012), S. 11-17.

4 V. a. Koran und Sunna (d. h. die Tradition/-Überlieferungen des Propheten und seiner Handlungen im Alltag). Für die schiitischen Gelehrten gelten zusätzlich die Überlieferungen der Imame.

5 Es gibt fünf Kategorien, in die diese göttlichen Beurteilungen im irdischen Leben eingeteilt werden. So können menschliche Handlungen als Pflicht, als verboten, als wünschenswert, als nicht empfohlen oder als uneingeschränkt tolerierbar gelten.

6 Regeln für die religiöse Praxis (Gebet etc.) nennen sich ʻibādāt, Regeln für das soziale Zusammenleben werden mit muʻāmalāt bezeichnet.

7 In furū-Werken gesammelt. Zum Begriff furū‘ siehe Endnote 11.

8 Im Moment dieser Tätigkeit gilt der faqīh als muǧtahid (der, der iǧtihād praktiziert). Es ist dabei umstritten, ob und wenn ja, bis zu welchem Grad nicht jedeR MuslimA aufgrund seiner/ihrer direkten Verbindung zu Gott ohne Vermittlungsinstanz ein muǧtahid sein kann, ohne gleichzeitig ausgebildeter faqīh bzw. uṣūlī sein zu müssen.

9 Diese methodische Grundlage der persönlichen „Anstrengung“ (wörtl. für iǧtihād) um möglichst große Nähe zum schariatischen Normenrahmen ist jedoch nicht mit der rein persönlichen, freien Rechtsfindung zu verwechseln, welche als „gesunde Einschätzung (einer Situation)“ (Van Ess, Josef [1997]: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. Band IV. Berlin, New York: W. de Gruyter, S. 661) vor allem in der frühislamischen Zeit galt und praktiziert wurde, oftmals naturgemäß ohne direkten Bezug zu Koran oder Sunna.

10 Der Rechtsgelehrte Muḥammad ibn Idrīs aš-Šāfiʿī (gest. 820), auf den sich die schafi’itische Rechtsschule bezieht, gilt als derjenige, der erstmals eine kohärente Abhandlung über die islamische Rechtsmethodik vorgelegt hat, diese wird mit risāla (arab.: Sendschreiben) tituliert. Wichtig zu erwähnen ist jedoch, dass das islamische Recht durch aš-Šāfiʿī nicht seine abschließende Form und Formulierung erhielt. Vielmehr gab es im 10./11. und 12. Jh. noch vieles, was für die islamische Rechtsgeschichte, -wissenschaft und -methodologie bis heute von großer Bedeutung ist, wie Thomas Bauer sehr eindrücklich beschreibt (Bauer, Thomas [2011]: Kultur der Ambiguität. Berlin: Insel Verlag, S. 157-181). Ihm zufolge kann vielmehr das Werk al-maḥṣul des Gelehrten Abū ʿAbd Allāh Muḥammad b. ʿUmar b. al-Ḥusain Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209) als abschließender Höhepunkt der formativen Periode der islamischen Rechtsmethodologie genannt werden (ebd., S.160f.).

11 Van Ess (1997), S. 661.

12 Diese Einzelbestimmungen des angewandten Rechts werden mit furū‘ al-fiqh, zu Deutsch „Zweige der Rechtsanwendung“, bezeichnet. Beide Teilbereiche uṣūl al-fiqh und furū‘ al-fiqh sind als komplementäre Bestandteile der islamischen Jurisprudenz (fiqh) zu sehen.

13 So etwa, wenn es um die Möglichkeiten geht, praktizierendeR MuslimA in mehrheitlich nicht-islamisch geprägten Staaten zu bleiben und gleichzeitig ein/e gute/r StaatsbürgerIn zu sein.

14 Ein Spezialist für diesen sehr wichtigen Teil der Rechtswissenschaft wird als uṣūlī bezeichnet.

15 Vor der tatsächlichen Etablierung einzelner Rechtsschulen mit ihren jeweiligen Gelehrten war es der Konsens der Gemeinde.

16 Siehe Endnote 9.

Rohe, Mathias (20113): Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck.

Lohlker, Rüdiger (2012): Islamisches Recht. Wien: UTB facultas wuv.

Rohe, Mathias (2013): Das islamische Recht. München: C.H. Beck.

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