Der Analogieschluss als Methode in der islamischen Rechtsfindung

Artikel 18.12.2017 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der vierten legitimen Methode der islamischen Rechtsfindung, dem Analogieschluss (Arab.: qiyās). Sie gilt nach Koran, Sunna und ijmaʼ (Konsens) als die vierte anerkannte Rechtsquelle. Der Analogieschluss wird zunächst nur für singuläre Rechtsfindungsfragen genutzt und gilt nicht als verallgemeinerbare Basis weiterer rechtlicher Argumentation, da es dazu keine direkte Textbasis in Koran oder Sunna gibt. Im islamischen Recht ermöglicht er jedoch eine möglichst große Flexibilität des Rechts.


Der renommierte Islamwissenschaftler Josef van Ess fasst das Zusammenspiel der vier sunnitisch anerkannten Rechtsquellen wie folgt zusammen: "Koran, sunna (bzw. ḥadīṯ) und Konsens fungierten als auctoritas: sie fielen alle unter den Oberbegriff samʼ: das, worauf man hören mußte"1. Alles, was darüber hinausging bzw. nicht in diese drei Bereiche einzuordnen war, musste man qua eigener Anstrengung (Arab.: iǧtihād) der Vernunft weiter argumentieren. Jedoch war auch das auf den Verstand gegründete eigene Urteil mit der Zeit der Beurteilung auf seine methodische Korrektheit unterlegen. Diese methodische Wendung, die das eigene Urteil methodisch und somit intersubjektiv nachvollziehbar macht (und deshalb vom ra'y2 unterscheidbar macht), wurde mit qiyās (d. h. Arab.: Analogieschluss) beschrieben und soll im Folgenden näher ausgeführt werden. Dazu wird zunächst eine kurze Einordnung vorgenommen, wie es zu seiner Bedeutung im Kontext der islamischen Rechtsfindung kam, um daran anschließend seine konkrete Funktionsweise zu skizzieren.

Für die Einbeziehung des qiyās in die vier akzeptierten Methoden der Rechtsfindung ist der Stifter der schafi'itischen Rechtsschule Muḥammad ibn Idrīs aš-Šāfiʿī (gest. 820) besonders wichtig: Er argumentiert für eine präzise Definition der Reihenfolge und Priorität der verschiedenen uṣūl (Quellen) des islamischen fiqh sowie für die Festlegung der Modalitäten ihrer Nutzung. Seine Definition der sunna sowie die Festlegung des qiyās als vierte Quelle der islamischen Norm- und Rechtsprechung wirkten richtungsweisend3. Als qiyās wird im fiqh zunächst die "Übertragung einer bekannten islamischen Norm (ḥukm) zu einem bekannten Sachverhalt auf einen neuen Sachverhalt aufgrund eines gemeinsamen Anlasses (ʿilla)"4 bezeichnet.

Obwohl von Anfang an in der Praxis Analogieschluss und iǧtihād bekannt waren, wurde der qiyās erst mit aš-Šāfiʿī tatsächlich als eine Form der Argumentation etabliert und sogar mit dem iǧtihād gleichgesetzt. Für ihn muss für den Fall, dass weder in Koran noch Sunna ein entsprechender Hinweis oder eine deutliche Formulierung zu spezifischen Fragen zu finden ist, der aṣl (d. h. Arab.: "die Wurzel") durch den persönlichen iǧtihad und deshalb mit Hilfe von qiyās abgeleitet werden. Aš-Šāfiʿī geht nämlich von der Vorstellung aus, dass jeder Auftrag von Gott eine ʿilla5 hat, d. h. eine Rechtsursache. Deshalb heißt die stärkste Form der Analogie auch qiyās al-ʿilla6.

Der qiyās kann als eine außertextliche Methode gelten, da zwar die Fundamente, auf denen rechtliche Einschätzungen durch ihn zustande kommen, in Koran oder Sunna zu finden sind, jedoch die Analogie, die dann zu ihnen gebildet wird, keine eigene Textbasis vorweisen kann. Eine Mehrheit von Gelehrten nahm jedoch an, dass es Möglichkeiten geben müsste, auch außerhalb der eng gefassten Textquellen von Koran und Sunna rechtliche Urteile zu fällen: Diese seien dann zwar weiterhin den islamischen Grundlagen verpflichtet, jedoch erschlössen sie zeitgemäße Antworten zu Fragen, welche sich so nicht in der Zeit der Offenbarung oder der Tradition des Propheten gestellt hatten. Durch den zwingenden Rückbezug auf bereits textlich gestützte Urteile, die eine Analogie begründeten, und die Einbeziehung ihrer Ursachen, Artverwandtheit oder Ähnlichkeit, wollten die Rechtsgelehrten stets den Eindruck vermeiden, man formuliere ohne solide Textbasis. Dies war nämlich gleichzeitig das größte und schwerwiegendste Argument der Analogieschlussgegner, die es unter den Rechtsgelehrten zu Hauf gab7. Dennoch setzte sich mit der Zeit die Auffassung in allen vier sunnitischen Rechtsschulen durch, dass der qiyās eine legitime Methode darstellt.

Um zu verdeutlichen, wie die Methode nun tatsächlich funktioniert, möchte ich auf ein sehr bekanntes Beispiel für den qiyās zurückgreifen: das Verbieten von Drogen. Obwohl es keine explizite Erwähnung eines solchen Verbotes gibt - weder im Koran noch in der Sunna - gelten Drogen als verboten. Warum ist das so? Drogen haben Gemeinsamkeiten mit dem Alkohol: z. B. den Rausch. So stützen sich die Gelehrten für das Verbot des Drogenkonsums auf das Verbot von Wein, dessen Wortlaut dem Koran zu entnehmen ist, um den Drogenkonsum zu verbieten. Auch Rüdiger Lohlker zieht dieses Beispiel heran und macht den Argumentationsverlauf des methodischen Vorganges transparent8: Die Frage ist hier, ob das Trinken von fermentiertem Dattelsaft verboten ist oder nicht. Gegeben ist 1) ein ursprünglicher Fall, nämlich das explizite Verbot von Wein (Arab.: ḫamr) im Koran. Gegeben ist 2) die rechtliche Regel, die sich ursprünglich dafür herausstellen lässt, nämlich, dass Wein verboten ist, weil er Trunkenheit/Rausch zur Folge hat. In einem dritten, neuen Fall muss nun ein verbindendes Element gefunden werden zwischen den beiden Fällen, in diesem Fall ist es eine ʿilla, d. h. die Ursache der ursprünglichen Regel, nämlich, dass es sich um etwas handelt, das einen Rauschzustand auslösen kann. Eine neue Regel kann somit 3) analog abgeleitet werden: Dattelsaft, der einen Rauschzustand auslösen und betrunken machen kann, müsste ebenfalls verboten sein, ebenso verhält es sich mit Drogen. Die ursprüngliche Regel ist wie verlangt textbasiert, die neue Regel zwar außertextlich, aber durch das verbindende Element dennoch textlich gut abgesichert. Man nennt die ursprüngliche Regel aṣl (arab. Plural: uṣūl / die Wurzel), während die neue Regel ein Zweig derselben ist und daher mit farʻ (arab. Plural: furuʻ) bezeichnet wird. Die furuʻ al-fiqh stellen mit den uṣūl al-fiqh die beiden komplementären Bereiche des islamischen Rechts dar, für die es jeweilige Spezialisten unter den Rechtsgelehrten gibt (siehe Artikel zur Rechtsfindungsmethodologie).

Die furuʻ stellen eine Möglichkeit dar, rechtliche Bestimmungen gegenwartsbezogen und zukunftsfähig zu halten und somit das islamische Recht nicht als eine unflexible Struktur verknöchern zu lassen, sondern es flexibel und für die Gläubigen auf ihre jeweilige Realität anwendbar zu erhalten, ohne deshalb die Basis der islamischen Normenlehre verlassen zu müssen.

 1 Van Ess, Josef (1997): Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. Band IV. Berlin, New York: W. de Gruyter, S. 660. (Hervorhebungen durch d. Verf.).

2 Vgl. Text zum Thema "uṣūl al-fiqh".

3 Vgl. Chaumont. E (2012): "aš-Šāfiʿī" Encyclopaedia of Islam, Second Edition.

4 Aydin 2016, S. 29.

5 Vgl. aš-Šāfiʿī, Muḥammad (1938): ar-Risāla. Hrsg. Aḥmad Chakir. Kairo: Matbat Muṣṭafá al-Bābī al-Ḥalabī, S. 477.

6 Daneben gibt es die beiden schwächeren Formen qiyās al-munāsaba (Artverwandtheit als Kriterium der Analogie), und qiyās al-šabah (Ähnlichkeit als Kriterium der Analogie), vertiefend dazu vgl. Lohlker, Rüdiger (2012): Islamisches Recht. Wien: UTB facultas wuv, S. 151.

7 Die Gegner des Analogieschlusses gingen davon aus, dass eine rein menschlich durch logisches Folgern herbeigeführte Regel nicht zulässig sei und keine verlässliche Basis vorweisen könne (vgl. dazu Lohlker 2012, S. 154).

8 Lohlker 2012, ebd.

Lohlker, Rüdiger (2012): Islamisches Recht. Wien: UTB facultas wuv.

Rohe, Mathias (2013): Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart. München: C.H. Beck.

Rohe, Mathias (2013): Das islamische Recht. München: C.H. Beck.

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