Iǧmāʿ - Konsens als Methode der islamischen Rechtsfindung
Innerhalb der Rechtsfindung stützen sich die Gelehrten zuvorderst auf Koran und Sunna als Grundlagen ihrer Arbeit. Hier gibt es Bereiche, die bereits auf den ersten Blick relativ eindeutig scheinen und in welchen sich nach eingehender Recherche eine gut begründete Rechtslage formulieren lässt. So könnte man zunächst zwei Bereiche des Rechts feststellen – einen ersten, in dem Übereinstimmung zu spezifischen Fragen herrscht und einen zweiten, welcher durch einen „Nicht-Konsens“ zu beschreiben wäre1. Der erste Bereich, so könnte dieser Logik folgend geschlossen werden, betrifft somit die Methode des sogenannten iǧmāʿ, d. h. des Konsenses. Dabei stellen sich mehrere Fragen, welche mit dieser Methode einhergehend aufkommen: 1) wessen Meinung und Argumentation muss übereinstimmen, und 2) wie kommt dieser Konsens zustande, rein praktisch gesehen?
Frühislamisch konnte kaum ein bedeutender Unterschied gefunden werden zwischen Konsens und Sunna des Propheten2, denn Beschlüsse durch eine Beratung unter den (ältesten, erfahrensten) Autoritäten abzustimmen und damit zu legitimieren, entsprach ohnehin dem allgemeinen Vorgehen auch in nicht-islamischen Stammeszusammenhängen. Zudem war der Prophet noch nicht so lange tot, sodass die Diskussion um Überlieferungen seiner Ratschläge oder Glaubenspraxis sich auf eine relativ überschaubare Anzahl an als Autoritäten anerkannten Personen beschränkte. So kann davon ausgegangen werden, dass die Übereinstimmung der direkten Prophetengefährten in Glaubensfragen ohnehin oftmals als bindend empfunden und praktiziert wurde. Erst später3, in der frühen Phase der Entwicklung einer islamischen Rechtsfindungspraxis, entwickelten sich Methoden, die für Zweifelsfälle in rechtlichen Auslegungsangelegenheiten herangezogen werden konnten. Der Konsens entwickelte sich als anerkannte Methode, weil man davon ausging, dass die Fehleranfälligkeit einer rechtlichen Meinung, wenn sie nicht von einem Einzelnen geäußert wurde, im Konsensfall maximal verringert sei: Man ging in diesem Fall dann von einer an „Unfehlbarkeit“ grenzenden Sicherheit aus, dass eine spezifische Frage im Sinne des Konsenses zwischen den Gelehrten korrekt entschieden sei4. All diese Ausführungen leiten zurück zur Frage 1: Wer soll sich alles einig sein, und was geschieht, wenn diese Einigkeit zu einem weiteren Zeitpunkt nicht mehr gegeben ist? Um wen es sich genau handelt, ist historisch unterschiedlich diskutiert worden: Ging es um die gesamte Gemeinde der Muslime? Betraf die Einigkeit örtliche oder regionale Gelehrte, die Mehrheit der Gelehrten oder alle Gelehrte? Jede einzelne dieser Varianten produziert wiederum weitere Schwierigkeiten: Handelt es sich nur um regionale Gelehrte, kann nur sehr begrenzt von einem Konsens ausgegangen werden. Handelt es sich um alle Gelehrte oder gar alle Muslime, so scheint es eine schiere Unmöglichkeit, hier einen Konsens herausfinden zu wollen. Als weitere Möglichkeit bleibt nur noch die Option „stillschweigendes Einvernehmen“ – d. h. von Konsens wird ausgegangen, solange es kein vernehmliches Veto eines muǧtahid gibt5. Auch werfen diese Fragen weitere Unterfragen zur zweiten oben genannten auf, nämlich, wie tatsächlich ein solcher Konsens festgestellt werden sollte, wenn es sich um über die gesamte islamische Welt verteilte Gelehrte handelt etc.
Schon allein der ständig schwelende Zweifel, ob es nun tatsächlich einen Konsens in einer speziellen Frage gebe, sichert einen hohen Grad an Meinungspluralität6 in der islamischen Rechtsfindung. Wenn man nun davon ausgeht, dass der Konsens bestimmter anerkannter Autoritäten gemeint ist, führt einen die Suche geradewegs zur schrittweisen Etablierung der Rechtsschulen: Obwohl die verschiedenen madhāhib (Rechtsschulen, Plural von Arab. maḏhab) eigentlich der Beleg dafür sind, dass es eben doch Unterschiede in der Auslegung gibt, also den Bereich des „Nicht-Konsenses“ repräsentieren, stehen sie zugleich für eine jeweilige Einheit in der Pluralität, denn hier gibt es durchaus bestimmte Angelegenheiten, die einheitlich und im Konsens dargelegt werden. Ein Beispiel wäre die Überlegung, ob man sich für die Bestimmung des Ramadanbeginns am heutigen Saudi-Arabien orientiert (das islamische Kernland, in dem mit Mekka und Medina die Hauptwirkungsstätten des Propheten liegen) oder mit der Sichtung des Hilal, des Mondes am Abendhimmel (wie es der Prophet selbst getan hat). De facto betreffen die Konsensfälle also das Ritualrecht bzw. gottesdienstliche Regeln (Arab. ʿibādāt) innerhalb des islamischen Rechts. Kommt es zu spezifischeren alltagspraktischen Fragen, für die auch kein korrespondierender koranischer oder durch die Sunna abgesicherter zeitlos gültiger Hinweis zu finden ist, kommt der iǧtihād zur Anwendung, d. h. selbständige Abwägung und Argumentation auf Basis der religiös legitimen Quellen. Dies kann als eine Art „checks and balances“ des islamischen Rechts betrachtet werden: Ein Erstarren in unwiderruflichen und unfehlbaren Konsensmeinungen, für die alle nachfolgenden Generationen ebenfalls „haftbar“ gemacht werden können, bleibt so fast unmöglich. Letzterer Bereich des Nicht-Konsenses unterliegt der Möglichkeit des Streits bzw. der Uneinigkeit – ein Tatbestand, den MuslimInnen zunächst einmal als traumatische Spaltungserfahrungen (Arab. fitna; hier in Form von Morden an rechtgeleiteten Kalifen, dem Schisma in der Nachfolgediskussion etc.) bereits in der frühislamischen Geschichte erinnern und der deshalb eine ablehnende Haltung produzieren könnte. Wie der renommierte Islamwissenschaftler Josef van Ess (1997) jedoch ausführt, gab es bereits früh Diskussionen darum, die den korrespondierenden Begriff zum Konsens, nämlich iḫtilāf 7 (Arab. für Meinungsstreit), betrafen. Das Resultat war, dass Meinungsstreit durchaus willkommen sein sollte, wenn er den Bereich des Rechts betraf, denn hier wurde er als nützlich betrachtet. Den Bereich der Theologie und den Bereich der Politik sollte dieser Meinungsstreit jedoch nicht betreffen, um die Einheit der muslimischen Gemeinde und die Bewahrung des Glaubens8 sichern zu können.