Sind Fatwas Todesurteile? Wenn nein, was dann?

Artikel 05.11.2017 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Thema fatwā (Arab.: Rechtsmeinung). Nach einer allgemeinen Einführung wird die Praxis der Fatwātätigkeit näher erklärt und in ihren verschiedenen Konnotationen beleuchtet. Dazu gehört es auch, in Zusammenhang mit den Artikeln über die Methodologie der islamischen Rechtsfindung und den vertiefenden Artikeln zu qiyās und iǧmāʿ noch einmal auf die Autoritäten der Rechtsfindung und Rechtsprechung einzugehen und verschiedene Facetten islamischer Rechtsergründung in ein Verhältnis zu setzen.


Im Jahr 2017 ist es 28 Jahre her, dass der schiitische Ajatollah Chomeini - Mitbegründer des Irans wie er heute existiert - eine Fatwā ausgesprochen hat, die sich gegen den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdi und dessen Buch "Die satanischen Verse" richtete: Sie entsprach einem Mordaufruf inklusive einem hohen Kopfgeld. Spätestens seit dieser Zeit hat der Begriff Fatwā einen sehr negativ konnotierten Ruf und wurde zahllose Male fehlinterpretiert, wenn es um die Praxis der Fatwā-Tätigkeit im Allgemeinen ging. In der Diskussion, die sich im öffentlichen Diskurs nach diesem ganz klar bedauernswerten Vorfall entspann, wurden häufig mehrere wichtige Informationen zum Begriff selbst und seiner Bedeutungsgeschichte entweder zu wenig oder gar nicht beachtet, was wiederum zu falschen Prämissen in Folgediskursen führte. An dieser Stelle soll etwas Licht ins Dunkel um dieses umstrittene Konzept gebracht werden.

Der Begriff Fatwā lässt sich wie weitere wichtige Begriffe in der zugehörigen Wortfamilie auf die Wurzel fata zurückführen: Diese hat unterschiedliche Bedeutungen, darunter "Jugend, Neuheit, Klärung, Erklärung"1. Mit dem Begriff verwandt und auf selbige Wurzel bezogen sind auch die Begriffe muftī, mustaftī und dār al-iftāʾ, welche uns weiter unten wieder begegnen und dann näher ausgeführt werden. Was haben diese Bedeutungsfelder mit dem zu tun, was eine Fatwā tatsächlich ist - eine Rechtsmeinung? Dies soll im Folgenden klar werden. Wie sich aus den Artikeln zur Rechtsmethodologie, iǧmāʿ und qiyās entnehmen lässt, gibt es im islamischen Recht nicht nur die Teile, die in fiqh-Kompilationen als rechtsbindende Regeln verstanden werden können, sondern eben auch Bereiche wie z. B. die gottesdienstlichen Angelegenheiten und religiösen Pflichten sowie normativ sozialethische Grundsätze, welche keine Form der Durchsetzung qua exekutiver Macht auf Basis der gerichtlichen Rechtsprechung kennen. Das, was heute unter Fatwā verstanden wird, betrifft v. a. eben jenen Bereich der sogenannten ʿibādāt und muʿāmalāt: Eine Frage stellt sich einem gläubigen Muslim oder einer Gruppe von Gläubigen und als Laien suchen diese aktiv den Rat eines Gelehrten/Gelehrtengremiums2, indem sie diese Frage an diese gelehrte Instanz richten. Der betreffende in islamischer Rechtsfindung bewanderte und ausgebildete Gelehrte formuliert daraufhin auf Basis der Methodik zur Rechtsergründung (s. uṣūl al-fiqh und furuʻ) eine rechtliche Meinung zu dieser konkreten Frage/diesem konkreten Beispiel oder Fall. Diese Tätigkeit führt uns zurück zur ursprünglichen Bedeutungsfamilie: U. a. ging es hier um die Klärung und Erklärung, in diesem Prozess wird der Fragesteller zum Klärungsuchenden, d. h. Arab. mustaftī, und der Ratgebende zum Erklärunganbietenden, d. h. Arab. muftī. Der Experte für islamisches Recht erklärt im Augenblick der Fatwā-Verkündung die Basis seiner rechtlichen Einschätzung und klärt den Fall für den Fragesteller. In diesem Moment hat er eine vermittelnde Autorität inne, keine absolute3 (wie das im Gegensatz dazu bei den textlichen Quellen Koran, Sunna und z. T. iǧmāʿ der Fall ist). Dies ist eine erste wichtige Information, die oftmals in der Diskussion um Fatwās nicht unbedingt vorkommt: "Die Formulierung von Recht ist tatsächlich eine Partnerschaft"4, d. h. es handelt sich um eine freiwillige Gefolgschaft dem Gelehrten gegenüber und soll gewährleisten, dass die Gelehrten den Gläubigen gegenüber rational nachvollziehbar und religiös-normativ den Grundlagen der Rechtsfindungsmethodologie verpflichtet argumentieren.

Eine weitere bedeutende Information ist, dass Fatwās klassischerweise keine rechtliche Bindung mit sich bringen, sie haben also immer auch eine Art Empfehlungscharakter. Im islamisch-politischen System (wie z. B. im Fall der frühen islamischen Dynastien vorhanden) gibt es Ämter, die getrennt voneinander für die Urteilsfindung in richterlichen Angelegenheiten einerseits und religiös-normativen ohne strafrechtliche Verfolgbarkeit andererseits vorgesehen sind: Die Autorität, die rechtlich-bindende Urteile (qaḍā - Gerichtsurteil) ausspricht, wird als Qāḍī bezeichnet. Der Qāḍī tritt qua Amt somit tatsächlich als Instanz der Jurisdiktion auf, die mit exekutiver Macht strafrechtlich durchgesetzt werden kann. Der Muftī ist das komplementäre Amt zum Qāḍī, er wirkt mit seinen Rechtsmeinungen im sozial-administrativen bzw. religiös-normativen Bereich der Urteilsfindung. Nicht selten arbeiteten jedoch Qāḍī und Muftī eng zusammen, denn eine Fatwā entsteht an der Schnittstelle zwischen Rechtstheorie und sozialer Praxis5 und kann somit durchaus den Bereich richterlicher Entscheidungen mit beeinflussen und es für ihn notwendig machen, sich religiös-ethisch abzusichern. Fatwās waren historisch also durchaus ein weiches Mittel (im Gegensatz zum Strafrecht), ein kohärentes soziales Miteinander auf zivilgesellschaftlicher Ebene zu unterstützen6.

Obwohl Fatwās rechtlich nicht bindend sind, sind sie für viele Gläubige eine wichtige Orientierung für alltagspraktische Zweifelsfälle, da sie davon ausgehen, dass die Rechtsgelehrten durch ihr Wissen und ihren Überblick über die Grundlagen der Einschätzung eine islamisch korrekte und methodisch korrekte Beurteilung geben. Sucht man den Rat eines Gelehrten in diesem Vertrauen auf seine Fähigkeiten und Gelehrsamkeit, macht man ihn damit zum muǧtahid (vgl. iǧtihād in den Artikeln Rechtsmethodologie, qiyās und iǧmāʿ) und begründet die Absicht, seiner Einschätzung zu folgen. Es bildet sich die Gefolgschaft eines muǧtahids demnach aus der aktiven Nachfrage aus der Gemeinschaft der Gläubigen. Folgt man einem Rechtsgelehrten in seinen Einschätzungen rechtlicher Art, praktiziert man taqlīd (Arab.: Nachahmung, Nachfolge) oder istifta' (daher auch der terminus mustaftī) - der Laie selbst ist oftmals für eine eigene Einschätzung zu wenig in Rechtsfindungspraxen bewandert und/oder kennt die Grundlagenliteratur nicht auf einem vergleichbaren Niveau, wie Gelehrte dies tun.

Ursprünglich waren Fatwās eine übliche Praxis, um das Wissen ('ilm) über den Islam generell zu erweitern und folgten einem Frage-Antwort-Prinzip (das wie zuvor beschrieben bis heute die Grundlage der Fatwā-Praxis darstellt). Historisch gab es einen Wandel, der mit der Gleichsetzung von 'ilm und Hadith einherging und Fatwās in einen direkten Zusammenhang mit ra'y und fiqh stellte. Nachdem sich mit der Entwicklung von Rechtsschulen auch eine rechtliche Literatur und fiqh-Werke gesammelt und etabliert hatten, betrafen Fatwās nur mehr Fragen, auf die in den fiqh-Werken keine Antworten zu finden waren7. Im heutigen Sinne wird Fatwā als ein nicht bindendes, formales Rechtsgutachten verstanden, das nur von Gelehrten mit einer Expertise in islamischem Recht ausgesprochen werden kann.

Das Amt des Muftīs ist nicht unbedingt damit verbunden: Muftī bezeichnet in diesem Fall nur die Art der Beziehung zu den Fragestellenden und der Tätigkeit. Die Funktion des Muftīs als Amtsträger wurde mit der Installation von Kolonialregierungen in vielen mehrheitlich islamisch geprägten Ländern in die Religionsschulen, die Madrasas, verlagert: Hieraus ging die Institution des dār al-iftāʾ hervor8. Bis heute gibt es diese mächtigen Institutionen (Beispiele Ägypten9 oder Saudi-Arabien10), die mit einer großen Belegschaft auf die zahlreichen persönlichen Fragen von Musliminnen und Muslimen weltweit antworten11. Auf den Websites zwei sehr einflussreicher Institutionen dieses Typs wird sehr gut ersichtlich anhand der verschiedenen Rubriken, dass die dort veröffentlichten Fatwās sich in die Bereiche Gottesdienst, Glaubensangelegenheiten, Gesellschaft & Familie, finanzielle Angelegenheiten, Ethik und Tradition kategorisieren lassen12. Bis heute verfügen einige Länder ferner zusätzlich über eigene Großmuftīs (z. B. Großmuftī von Bosnien; der Großmuftī von Ägypten steht dem erwähnten ägyptischen dār al-iftāʾ vor) oder sogenannte ulama'-Räte (z. B. in Marokko13 unter dem Vorsitz des Königs als sog. amīr al-muʾminīn, "Anführer der Gläubigen"), welche in ihrer Funktion ähnliche Aufgaben haben, wie sie schon traditionell den amtlich eingesetzten Muftīs übertragen waren: Neben der Urteilsfindung in religiös-rechtlichen Angelegenheiten (1), ging es auch um die Beratung der staatsführenden Kräfte (2). Es wird aus den Ausführungen deutlich, weshalb diese beratenden Gelehrten oder Gelehrtengremien den Ministerien für religiöse Angelegenheiten zugeordnet sind, nicht etwa den Ministerien für Justiz.

Für die gegenwärtige Diskussion sind einige Fragen rund um das Thema Fatwā von besonderer Dringlichkeit: 1) Welche Themenfelder werden zukünftig noch viel relevanter werden? Hier sind die Gebiete der ethischen Fragen in Medizin, Biologie und Technologie aus rechtlicher Perspektive z. T. noch viel zu wenig kompetent ergründet und es werden einige Präzedenzurteile anstehen. 2) Wie werden sich zukünftig die islamischen Theologien, die sich derzeit an europäischen Universitäten etablieren, in die Orientierungssuche der muslimischen Gemeinschaft einbringen können? Bisher gibt es nur wenig adäquate Lösungswege für rechtliche Meinungsbildung im europäischen Kontext und v. a. für deren Kommunikation an die Gemeinde; 3) Wie wird zukünftig mit medialen Zusatzoptionen umgegangen werden, die großen Teilen der Gemeinde und Öffentlichkeit weltweit zugänglich sind? Gibt es neue Wege der Fragestellungen, der Ausbildung einer Anhängerschaft, der Urteilsformulierung und wie ist umzugehen z. B. mit abgekoppelten medialen Räumen, in denen sich beispielsweise religiöser Fanatismus zur Radikalisierung auswächst? An diesen zukunftsrelevanten Fragenkomplexen lässt sich exemplarisch sehen, dass das Fatwāwesen in seiner Praxis und seinem Potenzial seine gewichtige Position in der religiösen Praxis von Millionen von Menschen weltweit weiterhin einnehmen kann und wird. Es lohnt sich daher, Begrifflichkeiten nüchtern in ihren tatsächlichen Bedeutungszusammenhang zu stellen und sie bis zu einem gewissen Grad zu rehabilitieren, um in einen fruchtbaren Austausch über die Praxis dahinter treten zu können.

Um die Titelfrage zu beantworten: Nein, Fatwās sind keine Todesurteile. Sie können nur in sehr seltenen Fällen als solche interpretiert werden, und zwar dann, wenn sie auch Straftatbestände berühren, welche qua gesetzlicher Basis richterlich verfolgt werden können. In den allermeisten Fällen sind diese Rechtsmeinungen jedoch mit Themen verknüpft, die keine Ahndung im richterlichen Sinne nach sich ziehen (können).

1 Masud, M. K.; Messick, B.; Dallal, A. S. (2009): Fatwā. Concepts of Fatwā; Process and Function; Modern Usage. Unter Mitarbeit von J. A. Kechichian und J. Hendrickson. In: John L. Esposito (Hg.): The Oxford Encyclopedia of the Islamic world. Oxford: Oxford Univ. Press, S. 233-242.

2 Die Fatwā-Tätigkeit im kleinen Maßstab kann auch eine Facette seelsorglicher Praxis im Islam sein, s. Artikel islamische Seelsorge.

3 Vgl. Lohlker, Rüdiger (2011): Islamisches Recht. Methoden. Stuttgart: UTB, S. 228.

4 Ebd., S. 229.

5 Caeiro, Alexandre (2006): The Shifting Moral Universes of the Islamic Tradition of Ifta': A Diachronic Study of Four Adab al-Fatwa Manuals. In: The Muslim World (Volume 96), S. 661.

6 Ebd.

7 Zu historischen Einzelheiten vgl. Masud et al. (2009), S. 233.

8 Ebd., S. 234.

9 dar-alifta.org/Foreign/default.aspx, abgerufen am 30.03.2017.

10 www.alifta.net/default.aspx, abgerufen am 30.03.2017.

11 Dazu bei Aslan, Ednan; Modler-El Abdaoui, Magdalena; Charkasi, Dana (2015): Islamische Seelsorge. Eine empirische Studie am Beispiel von Österreich. Wiesbaden: Springer VS (Wiener Beiträge zur Islamforschung), Kapitel 3.5.

12 Beispiel Ägypten: dar-alifta.org/Foreign/default.aspx, abgerufen am 30.03.2017.

13 Seit 2004 sind auch weibliche Gelehrte auf lokaler Ebene berufen.

Lohlker, Rüdiger (2011): Islamisches Recht. Methoden. Stuttgart: UTB.

Masud, M. K.; Messick, B.; Dallal, A. S. (2009): Fatwā. Concepts of Fatwā; Process and Function; Modern Usage. Unter Mitarbeit von J. A. Kechichian und J. Hendrickson. In: John L. Esposito (Hg.): The Oxford Encyclopedia of the Islamic world. Oxford: Oxford Univ. Press, S. 233-242.

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