Sunniten und Schiiten

Artikel 23.10.2017 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Thema des religiösen Schismas im Islam und der wichtigen Diskussionslinie zwischen Schiiten und Sunniten. Es wird hauptsächlich die frühislamische Zeit nach dem Tod des Propheten Muhammad behandelt, da sie konstitutiv für die Bildung der beiden größten islamischen Gruppierungen, den Sunniten (87-90 % der MuslimInnen weltweit) und den Schiiten (10-13 %), wirkte. Zuletzt wird zudem auch auf die gegenwärtige Situation eingegangen. 


Oftmals wird von der konfessionellen Trennung im Islam als äquivalent etwa zum christlichen Schisma bei Katholiken und Protestanten gesprochen. Diese Gleichsetzung greift wohl etwas zu weit, denn tatsächlich war der ursprüngliche Grund der Spaltung ein viel eher sozio-politischer als ein tatsächlich religiös-dogmatischer. Dogmatische Aspekte1 wurden im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte nach dem Ableben des Propheten Muhammad immer wichtiger und retrospektiv in die anfänglichen Konflikte hineingedeutet. De facto ging es bei der Spaltung der Gruppe der sunnitischen Muslime und der Proto-Schia zunächst „nur“ um die Frage, wie mit der Nachfolge des Propheten Muhammad verfahren werden kann.

Mögliche Nachfolgeprinzipien nach Muhammads Tod

Sieht man sich die Situation der frühislamischen Gemeinde genauer an, stand nach dem Tod ihres Anführers im Jahr 632 erst einmal ganz grundsätzlich die Frage im Raum, ob die Gemeinschaft und die um sie herum aufgebaute Gemeinde überhaupt seine Leitung überdauern würden. Muhammad hatte mit der Botschaft der Offenbarungen die einmalige politische Leistung verknüpft, unterschiedliche, z. T. verfeindete Gruppen einer zutiefst tribal organisierten und denkenden Gesellschaft zu vereinen in einer gemeinsamen Vision, einer Sprache und einer unbestrittenen politischen Führungsfigur ergeben, die durch Muhammads Prophetentum moralisch-ethisch untermauert war2.

Es war also durchaus unklar, ob die Botschaft stark genug sein würde, ohne eine solche starke Führungsfigur dennoch die junge Gemeinde zusammenzuhalten und ihr zu anhaltender ideeller Attraktivität und schneller Expansion zu verhelfen. In der Situation des Todes Muhammads mischte sich daher schon sehr bald in die alles beherrschende Trauer die Frage, wie man seine Nachfolge regeln könne. Es gab in der frühislamischen Gemeinde verschiedene Prinzipien, die alle ihre Berechtigung hatten und alle in je eigener Weise der Logik der Gemeinde entsprechen hätten können. Als traditionell-tribale Gesellschaft3 wäre eine Option der Nachfolgeregelung gewesen, die Stammeszugehörigkeit (in Muhammads Fall die Quraischiten) oder als ähnliche, jedoch alternative Möglichkeit die Blutsverwandtschaft (im Sinne der Clanzugehörigkeit, also in Muhammads Fall die sogenannten Haschimiten) als entscheidendes Kriterium anzuführen. Ein weiterer Faktor, der als Entscheidungsgrundlage ins Feld geführt wurde, war die Nähe zum Propheten in Medina4 oder die Länge der Gefährtenschaft mit dem Propheten, d. h. es ging hier auch darum, wer ihm wie früh gefolgt war und wie die Gefolgschaft beiderseits bewertet wurde5. Gerade in der frühen Offenbarungszeit, die Muhammad noch in Mekka verbracht hatte, war eine solche Gefolgschaft nicht nur eine Ausnahme innerhalb der Gesellschaft, sondern mit großer Gefahr und dementsprechend hohem persönlichen Einsatz und Loyalität trotz Todesgefahr verbunden gewesen. Daher war nicht nur die Gruppe der Prophetengefährten eine potenziell für die Nachfolge in Frage kommende, sondern v. a. auch diejenigen, die als muhajirūn6 gelten konnten, d. h. als Gefährten bereits mit ihm aus Mekka nach Medina emigriert waren. In diesen Diskussionen um die mögliche Nachfolge Muhammads spielte natürlich generell der politische und soziale Status eines potenziellen Bewerbers auch eine Rolle.

Aus sunnitischer Sicht folgten Muhammad die vier rechtmäßigen, sogenannten "rechtgeleiteten" Kalifen Abū Bakr ʿAbd Allāh ibn Abī Quḥāfa aṣ-Ṣiddīq, ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb, ʿUṯmān ibn ʿAffān und Abū l-Ḥasan ʿAlī ibn Abī Ṭālib7.Die sunnitische Geschichtsschreibung geht davon aus, dass es keine von Muhammad selbst festgelegte Nachfolgebestimmung gab und deshalb Faktoren wie oben erläutert ausschlaggebend für die Entscheidung der Gemeinde über den nächsten Nachfolger sein und abgewogen werden müssten. Die schiitische Perspektive sieht das anders und deutet eine Bemerkung, die Muhammad gegenüber seinem Vetter und Schwiegersohn ʿAlī geäußert haben soll, als einen direkten Hinweis darauf, wen der Prophet als seinen Nachfolger auserkoren hatte und bestimmte8. Sie erkennen deshalb die ersten drei Personen, die Muhammad de facto folgten, nicht an, sondern gehen davon aus, dass eigentlich der sunnitisch gesehen vierte Kalif der erste rechtmäßige Nachfolger hätte sein müssen.

Die ersten Nachfolger und frühislamische Konfliktlinien9

Anhand der vier ersten sunnitischen Kalifen bzw. des ersten schiitischen Imamats unter ʿAlī, lassen sich sehr deutlich die Prinzipien widerspiegeln, die oben bereits erläutert wurden: Abu Bakr (gest. 634) wurde aus dem Kreis medinensischer Unterstützer des Propheten bestimmt und ernannt und kann als Repräsentant der frühesten Gefährten des Propheten gelten sowie eine Stammeszugehörigkeit zu den Quraischiten vorweisen, als Vater von Muhammads Frau Aischa (voller Arabischer Name ʿĀʾiša bint Abī Bakr) war er zudem Muhammads Schwiegervater. Er war durch seine Stammeszugehörigkeit indirekt blutsverwandt und gehörte zur Aristokratie innerhalb des sozialen Gefüges. Sein Kalifat endete mit seinem natürlichen Tod bereits zwei Jahre nach seiner Ernennung.

Der zweite Kalif ʿUmar (gest. 644) wurde von Abu Bakr selbst als sein Nachfolger ernannt und belegte die Praxis der Schura mit einem großen Gewicht während seines Kalifats, d. h. die Beratung mit den Gefährten des Propheten und die Zugehörigkeit zu den Quraischiten galten für ihn als wichtige Faktoren für die Legitimität seines Kalifats und seiner Entscheidungen als Kalif. Der Schurarat, den er selbst eingesetzt und mit dem er beratschlagt hatte, war es auch, der zusammentrat, nachdem ʿUmar selbst von einem persischen Sklaven ermordet worden war: Er bestimmte daraufhin ʿUṯmān als dessen Nachfolger.

Für ʿUṯmān (gest. 656) sprach, dass er einer der wenigen frühen Gefolgsleute Muhammads in Mekka war und selbst zu einem der Clans des quraischitischen Stammes gehörte, dem banu umayya. Auch hier wurde also u.a. mit der tribalen Verwandtschaft argumentiert. Ein Indikator dafür, wie zerrissen die frühislamische Gemeinde in der Frage nach der rechtmäßigen Nachfolge war, ist die Art und Weise, wie bereits dieser dritte rechtgeleitete Kalif ʿUṯmān, der wegen seiner politischen Ausrichtung und Regierungsweise sehr umstritten war, ums Leben kam: Er wurde von aufständischen Muslimen ermordet. Bald kam das Gerücht auf, dass auch Aisha und zwei ihrer Verwandten in den Mord verstrickt gewesen sein könnten.

Der Nachfolger ʿUṯmāns wurde ʿAlī (gest. 661), der von Unterstützern und irakischen Kriegern ernannt wurde, jedoch kaum Unterstützung in den Reihen der Quraischiten hatte, obwohl er selbst zum direkten Clan Muhammads gehörte und dadurch als Vetter des Propheten eine sehr enge Blutsverwandtschaft aufweisen konnte. Zudem war er mit Muhammads Tochter Fatima verheiratet und daher der Schwiegersohn des Propheten. Weil ʿAlī sich entschied, die Mörder von ʿUṯmān nicht verfolgen zu lassen und sich so dem Vorwurf aussetzte, sie unterstützt zu haben, hatte er von Beginn seines Kalifats an nicht den Rückhalt der gesamten Gemeinde. Aus diesem Grund wagten zunächst Aisha und ihre Verwandten als Quraischiten eine offene Konfrontation in der sogenannten Kamelschlacht gegen ihn. Einer seiner erbittertsten Widersacher wurde jedoch der Statthalter von Damaskus, ein Unterstützer ʿUṯmāns und der ehemalige Sekretär Muhammads - Muʿāwiya b. Abī Sufyān (gest. 680), ein Repräsentant des Clans der Umayyaden. Nachdem die Auseinandersetzung ʿAlīs mit einer der frühesten islamischen Splittergruppen, den Charidschiten, mit der Ermordung ʿAlīs beendet worden war, konnte er durch geschicktes Taktieren sogar ʿAlīs Sohn al-Ḥasan ibnʿAlī ibn Abī Ṭālib (meist als Hassan wiedergegeben) dazu bringen, sich ihm anzuschließen. Er begründete als fünfter Kalif die Dynastie der Umayyaden.

Die Ermordungen ʿAlīs und seiner Söhne Hassan und al-Ḥusain ibn ʿAlī (meist als Hussein wiedergegeben) sind bis heute tief in die schiitischen Frömmigkeitstraditionen als kollektive Trauermomente eingebettet10 und wirken konstitutiv für ein schiitisches Gefühl des unrechtmäßigen Machtverlustes. So haben die frühen Imame auch bis zum fünften/sechsten Imam immer einen politischen Anspruch artikuliert, das Kalifat "zurückzugewinnen". Mit der Wandlung dieses politischen, d. h. mit militärischen Mitteln zu erreichenden Zieles in ein spirituelles, das mit einem moralisch-religiösen Überlegenheits- und Auserwähltseinsgefühl einhergeht, ist die formative Phase der Schia als eigene Bewegung markiert und sie wird von protoschiitischen Bewegungen zu einem einheitlichen Gegenentwurf zum sunnitischen Kalifatsmodell.

Gegenwart

Bis heute kann die Spaltung in Sunniten und Schiiten als ein Trauma der gesamten muslimischen Gemeinde betrachtet werden und gleichzeitig scheint die Kluft auch angesichts der gegnerischen politischen Lager, in neuer Brisanz aktualisiert seit der islamischen Revolution 1979 in Iran, unüberwindbar. Wie sich in der politischen Konstellation zeigt, beeinflusst diese tiefgreifende Wunde im kollektiven Gedächtnis der muslimischen Gemeinschaft nicht nur die religiöse Mentalität und die Beziehung zu Autorität, sondern hat auch Auswirkungen auf die geopolitische Lage im gesamten Nahen und Mittleren Osten, besonders deutlich wird das derzeit im Bürgerkrieg in Syrien.

Zum sunnitisch-schiitischen Verhältnis lässt sich sagen, dass durch die Art und Weise, wie das Imamat schiitisch verstanden und umgesetzt wurde, ein gegensätzlicher Entwurf zum Verhältnis von religiöser und politischer Autorität im sunnitischen Islam entstanden ist. Während sich bei den Sunniten immer mehr eine Art Gewaltenteilung (Kalif als weltliche Macht, ʿulamāʾ als religiöse Autorität) herauskristallisierte, ist schiitischerseits mindestens bis zum Ableben des 12. Imams, streng genommen jedoch bis heute (in der iranischen Verfassung ist seit 1979 wieder und weiterhin der Imam Mahdi die höchste religiöse und weltliche Autorität), keine Trennung der weltlichen und geistlichen Machtsphäre und Kompetenzbereiche vorgesehen. Das führt dazu, dass zwar in alltäglichen Dingen wie beispielsweise den Gebeten o. Ä. die religiöse Praxis nur geringfügig variiert, jedoch in größeren Fragen wie der nach der Autoritätenteilung, der Beurteilung von irdischen Autoritäten oder auch der Deutung von politischen Ereignissen bis zum heutigen Tag sehr große Diskrepanzen festzustellen sind.

1 Siehe auch Artikel „Wer oder was ist ein Imam?"

2 Hourani, Albert H.: A history of the Arab peoples, London: Faber 2013, S. 43 f.; S. 46 f.

3 Bobzin, Hartmut: Mohammed (= C.H.Beck Wissen, Band 2144), München: Beck 2016, S. 62 ff.

4 Hourani 2013, S. 22 ff.

5 Bobzin 2016, S. 78 ff.

6 Im Anschluss an den Terminus Hidschra (arab. hiǧra: der Auszug/die Auswanderung). Das Ereignis der hiǧra, d. h. der Flucht des Propheten von Mekka nach Medina, markiert religionsgeschichtlich den Beginn der islamischen Zeitrechnung.

7 Im Folgenden werden die Namen in ihrer gebräuchlichen Form wie im Deutschen mittlerweile üblich verwendet.

8 Es handelt sich dabei um eine Begebenheit auf der Rückreise von Muhammads letzter Reise, die sich in der Oase Ġadīr Ḫumm zugetragen haben soll. Ihr zufolge soll Muhammad zur Reisegesellschaft über Ali gesagt haben: „Jeder, dessen Herr ich bin, der hat auch Ali zum Herrn.“ (zitiert nach Madelung, Wilferd: The succession to Muḥammad. A study of the early Caliphate, Cambridge: Cambridge University Press 1997, S. 253).

9 Vertiefend dazu Madelung 1997.

10 Muhammad, ʿAlī, seine Frau und Muhammads Tochter Fāṭima bint Muḥammad, bilden mit ihren Söhnen die sogenannten ahl al-bait (arab.: „Leute des Hauses“) und damit im schiitischen Islam die Kernzelle der charismatischen Gottesnähe über die Blutsverwandtschaft zu Muhammad (siehe auch Artikel „Wer oder was ist ein Imam?").

Madelung, Wilferd: The succession to Muḥammad. A study of the early Caliphate, Cambridge: Cambridge University Press 1997 (aktualisierte Auflage 2006).

Halm, Heinz: Der Islam. Geschichte und Gegenwart (Beck'sche Reihe, Band 2145), München: Beck 2015.

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