Taqīya - Freifahrtschein für interreligiöse Verschleierungstaktik?

Artikel 09.04.2018 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der taqīya im Islam. Es wird zunächst auf die etymologischen Wurzeln eingegangen und im Anschluss zu einer kurzen islamwissenschaftlichen Einordnung bezüglich der Unterschiede zwischen sunnitischer und schiitischer Handhabe übergegangen.


Oftmals wird das sogenannte taqīya-Prinzip als grundlegendes Hindernis für freundschaftlichen Kontakt, Dialog und multireligiöses Zusammenleben angeführt. Dies ist gerade für Gesellschaften ein wichtiges Thema, in denen MuslimInnen und Nicht-MuslimInnen zusammenleben und gemeinsam die Basis einer Gemeinschaft bilden. Sowohl unter MuslimInnen wie NichtmuslimInnen gibt es dazu unterschiedlichste Verständnisse und Deutungen: Es soll daher im Folgenden näher beleuchtet werden, was der Begriff meint und welche Bedingungen an ihn geknüpft sind.

Taqīya kann als terminus technicus zunächst mit „vorbeugender Verstellung“ übersetzt werden. Der renommierte Islamwissenschaftler Josef van Ess verwendet in seiner „Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam“1 die Übersetzung "Geheimhaltung"2. Allen Übersetzungen ist gemein, dass sie etwas mit Vorsicht und Furcht, ergo auch mit einer Bedrohungslage zu tun haben. Gehen wir zunächst zu den Wurzeln im Arabischen zurück, so lässt sich feststellen, dass taqīya mit den Wurzelkonsonanten w-q-y des Wortes ittaqā „(Gott) fürchten“ in begriffsgeschichtlicher Verbindung steht. Ebenfalls etymologisch verwandt sind die Begriffe tattaqū ("ihr fürchtet Euch") und tuqāt ("fürchtend"), die in Sure 3:28 vorkommen, und das Wort al-atqā "der Gottesfürchtigste" aus Sure 49:13. Es wird deutlich, dass es sich also einerseits um die Furcht vor anderen Menschen handeln kann und gleichzeitig ein enger Zusammenhang mit der Gottesfurcht besteht. Somit ist der Begriff taqīya mit der für Gläubige wichtigsten Eigenschaft, der Frömmigkeit – das Wort dafür, taqwā – verwandt. Aus diesem begrifflichen Feld und den unterschiedlichen Bedeutungsebenen der Wortfamilie kann extrahiert werden, dass die Praxis der taqīya erstens etwas beschreibt, das im Kontext einer Bedrohung irdischer Art steht, und zweitens religiös konnotiert ist, m.a.W. einer Tat „für Gott“ entspricht.

Gehen wir von diesen Grundlagen aus, können wir auch besser einordnen, was das taqīya-Prinzip beinhaltet und wann es zum Einsatz kommen soll: es handelt sich um eine Geheimhaltung aus existenziell bedingter Vorsicht, zum Schutz des eigenen Lebens, es umschreibt eine Verstellung als Reaktion auf eine bedrohliche Lage, die eine Furcht um das eigene Leben zur Folge hat3. Diese Bedrohung kann nun einerseits aus den Reihen einer andersgläubigen Umgebung oder Regierung kommen, oder eben auch aus den Reihen der Muslime vonseiten einer anderen Konfession. Die bis heute als Grundlagenforschung zu betrachtende arabistischen Arbeiten von Ignaz Goldziher geben dazu nähere Erläuterungen, die es sich lohnt hier im Original zu zitieren:  

„Die alten Gesetzeslehrer betrachten den Fall des 'Ammār als normgebend in ihren auf ähnliche Verhältnisse bezüglichen Bestimmungen. "Wenn der Machthaber zu jemand sagt: Du mußt Allah verleugnen, sonst töte ich dich, so steht es ihm frei (A. zu verleugnen)". Als Bedrohungsarten, die solche Freiheit begründen, hat man nur Totschlag und körperliche Verstümmelung zugelassen. "Wer in eine Lage gebracht wird – sagt auch Ṭabāri im Namen des Daḥḥāk – in der er in einer Weise reden muss, die dem Abfall von Allah gleichkommt und er redet in dieser Weise aus Furcht für sein Leben, sein Herz ist aber standhaft im Glauben, so trifft ihn keine Verschuldung. Dies gilt aber nur für die Zunge d. h. für mündliche Bekenntnisverleugnung, schließt aber nicht auch religionsfeindliche Handlungen ein". Später wird dabei als erforderlich bezeichnet, die Verleugnung des Bekenntnisses in solchen Notfällen möglichst durch doppelsinnige Worte auszudrücken, die eine reservatio mentalis ermöglichen, und jedenfalls gegen das erzwungene äußerliche kufr innerlich zu protestieren; Gott beurteile die Taten der Menschen nach der innerlichen Intention.“4

Unter diesen alten Gesetzeslehrern führt Goldziher eminente muslimische Gelehrte wie Abū Ḥanīfa an-Nuʿmān ibn Ṯābit al-Kūfī (gest. 767), Abū Ǧaʿfar Muḥammad ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī (gest. 923), Abū ʿAbd Allāh Muḥammad ibn ʿUmar ibn al-Ḥusain Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209), Muḥammad ibn Ismāʿīl ibn Ibrāhīm ibn al-Muġīra al-Buḫārī al-Ǧuʿfī (gest. 870) und Abū Muḥammad ʿAlī ibn Aḥmad Ibn Ḥazm aẓ-Ẓāhirī al-Andalusī (gest. 1064) an.5

Der Verweis auf diese Gelehrten zeigt, dass es sich beim taqīya-Prinzip durchaus um eine gesamtislamische Diskussion grundlegender Natur handelte, die sich an den in Sure 16:106 geäußerten Fall anlehnt, es sei nicht erlaubt, den Glauben zu verleugnen, „außer, wer gezwungen wurde, jedoch im Herzen weiter gläubig ist“6. Grundsätzlich sind, wie van Ess betont, „Diplomatie und Vorsicht“ durchaus geläufige Haltungen von unterschiedlichsten religiösen Minderheiten, nicht nur muslimischen, in verschiedenen historischen Situationen gewesen7 – er zählt selbst die Manichäer, Elkesaiten und Mandäer als Minderheiten in christlich dominierten Gesellschaften und die Zoroastrier als Beispiel einer Minderheit in einer muslimischen Mehrheitsgesellschaft auf8. Die Schiiten selbst und unter ihnen wiederum kleinere Splittergruppen haben dem taqīya-Prinzip zu einer besonders schwerwiegenden Position innerhalb der schiitischen Frömmigkeit verholfen: Es ging hier von Beginn der retrospektiven Bedeutungsgebung auch immer um die Minderheitenposition und eine gefühlte oder tatsächliche Bedrohungslage in mehrheitlich sunnitischem Kontext. Als erste schiitische Gruppe, die sich mit der taqīya-Praxis religionsgeschichtlich auseinandersetzte, können van Ess zufolge die sogenannten Kaisaniten gelten, die annahmen, dass bereits der vierte Kalif9 Abū l-Ḥasan ʿAlī ibn Abī Ṭālib (gest. 661) vor der Übernahme des Kalifats taqīya ausgeübt habe10, „und sie betrachten sich auch selber als Bewohner einer islamischen Ökumene, die ihnen Vorsicht geraten sein ließ: einer dār at-taqīya11. Das heißt, der Ursprung der taqīya-Praxis bei den Schiiten bezieht sich hier auf die schiitischen Andersgläubigen oder die sunnitischen Andersgläubigen und nicht in erster Linie auf die nicht-muslimischen Andersgläubigen.

Zwei große Diskussionspunkte werden dabei im Hinblick auf die taqīya-Praxis besonders hervorgehoben, wie das Goldziher bereits andeutet (s. oben): Zunächst stellt sich die Frage danach, ob es einzig um eine bekenntnishafte Verleugnung geht oder diese darüber hinaus auch auf rituelle Vollzüge ausdehnbar ist. Des Weiteren drängt sich die Frage auf, ob die taqīya als eine vor Gott entschuldbare Praxis gelten sollte, oder als etwas, das sogar eine Glaubenspflicht sei. Vor allem in schiitischen Kreisen finden sich oftmals die letzteren Positionen12. Indem die eigene religiöse Zugehörigkeit nicht öffentlich gemacht wird, ist es möglich, die religiöse Praxis aufrecht zu erhalten. Somit wird sowohl die Karriere der Einzelperson nicht aufgrund des religiösen Bekenntnisses behindert oder gar unmöglich gemacht als auch das Fortbestehen der Religion an sich gesichert – für den schiitischen Alltag beispielsweise zu Zeiten des sechsten zwölferschiitischen Imams Abū ʿAbd Allāh Ǧaʿfar ibn Muḥammad aṣ-Ṣādiq13 (gest. 765) ein immens wichtiges Mittel, sich gegen Verfolgung schützen zu können14. Bis zum schiitischen Imamat von Ja‘fars Vater und Vorgänger Muhammad ibn ʿAlī al-Bāqir (gest. 732) galt es als politisch-religiöse Pflicht der Imame, die rechtmäßige Regierung der Muslime wieder herzustellen, d.h. das Kalifat zurückzuerobern. Schon unter seinem Vater wurden religiöse Qualitäten und Qualifikationen der Imame immer wichtiger. Diese Tendenz wurde unter Ja‘far noch deutlicher. Die Praxis der taqīya ermöglichte retrospektiv die Legitimation seiner politischen Passivität und dafür, dass er und schon sein Vater nicht versucht hatten, das Kalifat mit militärischen Mitteln an sich zu reißen: So konnte ein klarer Schwerpunkt auf eine religiöse Führung gelegt und theologisch gerechtfertigt werden.

Religionsgeschichtlich gesehen hat sich die taqīya-Praxis so im schiitischen Kontext sehr viel mehr etabliert und tatsächlich zum Teil als „(über-)lebensnotwendig“ erwiesen. In der Gegenwart muss für den europäischen Kontext festgestellt werden, dass sich eine Bedrohungslage, wie sie theologisch verhandelt und religionsgeschichtlich zur Diskussion stand, jedes Vergleichs entbehrt. Somit auch jede innermuslimische Debatte um eine möglicherweise legitime taqīya-Praxis immer im Lichte dessen geführt wird, was den Kontext ausmacht: eine freiheitliche Grundordnung, die zumindest in Österreich (ebenso wie in Deutschland) auf einem säkularen Rechtsstaat fußt und die Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, für jedes Individuum garantiert. Dies stellt die taqīya-Praxis als nicht-legitim heraus, da die Bedingung einer lebensbedrohlichen Situation im Falle des Bekenntnisses zu Allah als nicht gegeben angesehen werden kann. Von einem Freifahrtschein zu Lüge, Verschleierung oder vorgetäuschter Freundschaft und Dialogbereitschaft gehen reflektierte Gläubige mitnichten aus und so sollte davon auch als Inhalt von Vorwürfen abgesehen werden.

1 Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. Band I. Berlin-New York 1991. S. 312-315.

2 Ebd., S. 312.

3 Koran 5:5 und 6:119.

4 Ignaz Goldziher: "Das Prinzip der Taḳijja im Islam" in: Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 59 (1906), S. 215.

5 Ebd. Siehe Fußnoten 2-7.

6 Koran 16:106.

7 Und es kann in diesem Sinne auch nicht davon ausgegangen werden, dass dies nur historisch und nicht auch gegenwärtig in Ländern der Fall ist, in denen Religionsfreiheit nicht gegeben ist.

8 Van Ess (1991), S. 313.

9 Sunnitisch gesehen, schiitisch gilt Ali als der direkte und erste rechtmäßige Nachfolger des Propheten Muhammad.

10 Van Ess (1991), S. 313.

11 Ebd.

12 Ebd., S. 314; Goldziher (1906), S. 219f.

13 Mehr dazu unter: Wer oder was ist ein Imam?

14 Ihm wird sogar nachgesagt, er habe von seinen Anhängern verlangt, ihn auf der Straße nicht zu grüßen (vgl. van Ess (1991), S. 315).

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