Wir sind keine Götter

Zeitungsbeitrag 10.08.2016 Zekirija Sejdini

Plädoyer für eine sachliche Diskussion über die Erscheinungsformen des politischen Islams.


Seit den Anschlägen des 11. September 2001 in New York ist das Thema des politischen Islams samt seinen Erscheinungsformen ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gerückt. Die Anschläge in Madrid und London, die Entstehung des "IS-Terrorstaates" im Irak und in Syrien und der letzte Anschlag in Paris haben diese Auseinandersetzungen zusätzlich verschärft. Betrachtet man die dramatische Lage, besteht zurzeit wenig Hoffnung, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für die die IS-Terrormiliz verantwortlich zeichnet, in absehbarer Zeit beendet werden. Das hat zur Folge, dass sich die Diskussion über den politischen Islam intensivieren wird.

Um zu verhindern, dass eine Atmosphäre des Misstrauens aufgrund der religiösen Zugehörigkeit in der europäischen Gesellschaft verbreitet wird, müssen die Fragen über einen angemessenen Umgang mit der Problematik ernst genommen werden. Insbesondere die Wissenschaft versucht, darauf eine Antwort zu geben.

Die meisten relevanten jüngeren Publikationen zum politischen Islam sind bemüht, die Unterschiede zwischen den extremistischen Gruppierungen aufzuzeigen und so einen differenzierten Zugang zu ermöglichen. Doch erzeugen diese Differenzierungen außerhalb der akademischen Welt oft Unverständnis. Dies mag einerseits daran liegen, dass die Probleme sehr komplex sind, aber andererseits auch daran, dass die Gesellschaft geneigt ist, hochkomplexe Phänomene, wie das der Radikalisierung, mit einfachen Bildern auflösen zu wollen.

Der Drang nach Klarheit und Eindeutigkeit scheint jedoch eine Grundtendenz in radikalen Gruppen zu sein. Denn die Gleichsetzung der Eindeutigkeit mit der Wahrheit bringt eine moderne Gesellschaft nicht nur von ihren existenzsichernden Grundsätzen ab, sondern macht glauben, die Wahrheit ließe sich besitzen. Dies geht einher mit einer moralisierenden Haltung, die jede Abweichung als Sünde qualifiziert, und Pluralität, Komplexität und Perspektivität grundsätzlich ablehnt und die Ambivalenz als zu überwindendes Defizit betrachtet. Gerade im Versuch der Überwindung werden Dualismen konstruiert, die sich als die Feinde der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft entpuppen.

Demgegenüber ist, nach dem amerikanischen Philosophen Stephan Toulmin, "die Akzeptanz der Vielfalt, Vieldeutigkeit und Ungewissheit nicht als Fehler oder Sünde zu betrachten, sondern vielmehr als ein unausweichlicher Preis, den die Menschen zahlen müssen", weil sie eben kein umfassendes Wissen besitzen, also "keine Götter sind".

Mit der Wertschätzung von Pluralität und Ambiguität soll weder eine Relativierung unserer Werte suggeriert noch die islamische Theologie aus der Pflicht genommen werden. Es soll nur der ambivalente Charakter des Lebens und der Religionen ins Bewusstsein gerufen werden.

Ohne eine entsprechende Sensibilisierung und multiperspektivische Sichtweise droht die Gefahr einer Einengung der Debatte zwischen den beiden populistischen und unzureichend reflektierten Positionen, bei der entweder die Religion im Allgemeinen und der Islam im Besonderen als gewalterzeugend dargestellt oder das Gewaltpotenzial der Religionen zur Gänze ausgeschlossen wird. Beide Positionen gehen nicht nur an der Realität vorbei, sondern verhindern durch ihre populistische Haltung eine dingend notwendige Diskussion.

Um dem politischen Islam entgegenzuwirken, sind außer der erwähnten Berücksichtigung der Komplexität des Phänomens und der Ambivalenz der Religionen noch einige weitere Grundsätze zu beachten, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.

Gewalt und Religion

Wie fast alles im Leben sind auch die Religionen durch eine grundsätzliche Ambivalenz charakterisiert. Sie können sowohl Frieden fördern und Gewalt mindern als auch durch Verquickung mit anderen Motiven Gewalt initiieren. So, wie es Waldmann zutreffend beschreibt, lässt sich die Frage, welche dieser beiden ambivalenten Seiten jeweils aktiviert wird, nicht aus den heiligen Schriften der Religionen a priori ableiten, sondern kann nur anhand konkreter empirischer Beispiele untersucht werden. Das heißt: Wenn Gewalt auftritt, muss man erst recht die menschliche Komponente in den Blick nehmen.

Dies unterstützt auch der französische Kulturanthropologe Rene Girard, wenn er betont, dass "die Menschen dazu neigen, die Religionen zum Sündenbock zu machen". Tatsächlich ist aber, so Girard, "die Gewalt, für die wir gerne die Religion verantwortlich machen würden, unsere eigene Gewalttätigkeit", der wir uns ohne Umschweife stellen müssen.

Genau dieses Gewaltpotenzial, das dem Menschen innewohnt, wird in den Diskussionen um die religiös motivierte Gewalt unterschätzt, ja sogar ausgeblendet. Die Religion wird als alleinige Ursache der Gewalt dargestellt. Dies soll nicht die gewaltbeinhaltenden religiösen Texte verharmlosen, geschweige denn diese rechtfertigen, sondern darauf hinweisen, dass jegliche Schlussfolgerung ohne die Berücksichtigung des Gewaltpotenzials des Menschen zwangsmäßig zu falschen Konsequenzen führt und die Gefahr der Radikalisierung und des Terrorismus erhöht.

"Wir-ihr"-Rhetorik

In der Auseinandersetzung mit dem politischen Islam ist die Aufmerksamkeit auch auf die "Wir-ihr"-Rhetorik zu richten, welche nicht selten das Bestehen vermeintlich klarer Trennungslinien zwischen bestimmten Religionen bzw. Weltanschauungen suggeriert. Trotz unzähliger Gegenbeispiele in der Geschichte der Menschheit werden besondere Handlungen als genuin unabänderliche Positionen einer bestimmten Religion dargestellt. Dies führt dazu, dass die daraus entstehenden Probleme als Importe gebrandmarkt werden, die uns dann zumindest das Gefühl vermitteln, damit nicht viel zu tun zu haben. Dies geschieht unbeschadet der Tatsache, dass die Mehrheit der radikalisierten Jugendlichen, um die es geht, in Europa lebt und hier sozialisiert ist. Dieses Bestreben, unangenehme Phänomene durch Externalisierung zu vermeiden, anstatt sich diesen als einer gemeinsamen Herausforderung zu stellen, behindert nicht nur einen konstruktiven Zugang, sondern erschwert auch eine Lösung, da diese nicht in Wir-ihr-Zuschreibungen, sondern nur gemeinsam zu erreichen ist.

Es muss klar sein, dass es sich beim politischen Islam nicht um ein rein religiöses Phänomen handelt, sondern um eine Geisteshaltung, die sich je nach Umständen unter dem Deckmantel verschiedener Religionen und Weltanschauungen zeigen kann. Vor dieser Geisteshaltung ist niemand geschützt. Die grausamen Morde der IS-Terroristen an Muslimen, Christen und Menschen anderer Glaubenszugehörigkeiten und die Zerstörung von zivilisatorischen Errungenschaften zeigen deutlich, dass die Terroristen keine religiösen Unterschiede machen und es ihnen nur um die Durchsetzung ihrer eigenen Geisteshaltung geht, die in diesem Fall islamisch gefärbt ist. Diese Tatsache führt uns zum nächsten Punkt.

Umdenken in der islamischen Theologie

Trotz der neuesten Forschungsergebnisse, wonach die Mehrheit der Terroristen religiöse Analphabeten sind, und im Bewusstsein, dass die religiöse Radikalisierung verschiedene Gründe hat, ist die islamische Theologie herausgefordert, sich mit den eigenen Quellen und Lehren kritisch auseinanderzusetzen. Die Behauptung, die islamisch motivierte Gewalt habe nichts mit dem Islam zu tun, ist genauso unreflektiert, falsch und kontraproduktiv wie die Aussage, dies habe ausschließlich mit dem Islam zu tun. Die theologische Auseinandersetzung muss all jene Bereiche umfassen, die eine Zuspitzung religiöser Inhalte erlauben und die eine Eingliederung des Islams im zivilisatorischen Rahmen unserer Welt verhindern. Eine historisch-kontextuell sensible Herangehensweise an Themen wie Menschenwürde, Meinungsfreiheit, Säkularismus und Demokratie soll nicht nur menschenrechtskonforme Interpretationen aus der islamisch-theologischen Perspektive ermöglichen, sondern auch in Anlehnung an die eigene Tradition die Pluralitätsfähigkeit und das Kontingenzbewusstsein unter den Muslimen verstärken.

Denn nur durch die Berücksichtigung dieser bedeutsamen Faktoren, die gemeinsame Arbeit und den Zusammenhalt aller Akteure kann dem Phänomen der Radikalisierung entgegengewirkt werden. Schließlich hängt unsere Zukunft nicht von einigen Fanatikern ab, sondern davon, wie wir mit all diesen Herausforderungen umgehen werden.

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