Der Islam in der Ukraine

Artikel 13.12.2021 Redaktionsteam

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit dem Islam in der Ukraine und auf der Halbinsel Krim. Nach einer allgemeinen Einführung werden die Geschichte und Verbreitung des Islams in der Ukraine sowie die Relevanz der Krimtataren für dieses Gebiet erörtert. Es wird auch kurz auf die Krim-Krise eingegangen. Zu guter Letzt wird die islamische Erziehung und Bildung aufgezeigt.


Einer der frühesten Beweise für die Existenz des Islams auf dem Gebiet der modernen Ukraine stammt aus dem achten Jahrhundert. Die dort ansässigen Alanen – ein nomadisches iranisches Reitervolk – begruben ihre Toten nach islamischer Bestattungspraxis.1 Die Geschichte des Islams in der Ukraine ist zudem fest mit den Krimtataren, einer ursprünglich auf der Halbinsel Krim lebenden muslimischen ethnischen Gruppe, verbunden. Sie trugen seit dem 13. Jahrhundert maßgeblich zur Verbreitung des Islams in der Ukraine bei. Die ethnische Herkunft der Krimtataren ist unklar, wobei mehrere Theorien zu ihrer Abstammung existieren.2 Die gewichtigste Theorie besagt, dass die Wurzeln der Krimtataren durch unterschiedliche Ethnien geformt wurden. Zu ihren Vorfahren werden die Kiptschaken, Oghusen, Goten sowie Turkstämme der Goldenen Horde und osmanischen Türken gezählt.3 Der regionale Dialekt der letzteren Gruppe diente mehrere Jahrhunderte sogar als Lingua franca auf der Halbinsel Krim.4

Obwohl der Islam in der Ukraine die zweitgrößte nichtchristliche Religionsgemeinschaft bildet, fehlen eindeutige Statistiken zur Bestimmung ihrer genauen Anzahl. Im Jahr 2014 lebten ungefähr 600.000 MuslimInnen in der gesamten Ukraine, was ca. 1,4 % der Gesamtbevölkerung entsprach.5 Anderen Statistiken zufolge gehören ein bis zwei Millionen Menschen in der Ukraine und auf der Halbinsel Krim dem Islam an.6 Laut einer weiteren Studie des Ukrainischen Instituts für Orientalistik für die renommierte Zeitschrift Ukrainskyi Tyzhden setzt sich die heutige muslimische Bevölkerung der Ukraine aus verschiedenen Nationalitäten zusammen: Krimtataren, Wolgatataren, Aseri, Usbeken sowie anderen nordkaukasischen Volksgruppen. Aufgrund der stark variierenden Daten kann folglich jede vorgeschlagene Gesamtanzahl der in der Ukraine lebenden MuslimInnen ernsthaft angezweifelt werden.7

Geschichte des Islams in der Ukraine

Die allersten MuslimInnen sollen vor der Gründung des Kiewer Reichs im siebten Jahrhundert mit dem nomadischen Turkvolk der Chasaren nach Kiew gekommen sein.Die in Kiew und auf der Krim stationierten militärischen chasarischen Truppen bestanden zum Teil aus muslimischen Söldnern. Jedoch war nur eine kleine Minderheit der Chasaren muslimisch.9 Die chasarische Oberschicht konvertierte im neunten Jahrhundert zum Judentum anstatt zum Islam.10 Nachdem das Kiewer Reich, welches als Vorläuferstaat der heutigen Staaten Ukraine, Russland und Weißrussland anerkannt wird, im zehnten Jahrhundert das Chasaren-Reich zerstört hatte, lehnten die Herrscher- sowie die Oberschicht den Islam ab und bekehrten sich zum orthodoxen Christentum. Diverse Aufzeichnungen aus dem elften Jahrhundert bestätigen dennoch die Präsenz muslimischer Anhänger unter den Söldnern der hohen Kiewer Fürsten, sowie enge Handelsbeziehungen ihrerseits mit der islamischen Welt.11

Zu Beginn des 14. Jahrhunderts wurde der Islam nach der umfassenden Islamisierung der Goldenen Horde politisch prädominierend. In der einfacheren Bevölkerung gab es hingegen noch lange schamanistische und auch christliche Türken und Mongolen.12 Ab Mitte des 15. Jahrhunderts spaltete sich die Goldene Horde und es entstandenen mehrere selbstständige Staatsgebilde: Khanat Krim, Khanat Kasan und Khanat Astrachan. Im Jahre 1441 führte die Gründung des Khanats der Krim durch die Auserwählung Haci I. Girays (gest. 1466) zum Khan zur Eingliederung der heutigen südlichen Ukraine in die muslimische Welt.13 Die Islamisierung der Bevölkerung führte schließlich zur Entwicklung religiöser Netzwerke sowie zum Bau von Moscheen, Bildungseinrichtungen und islamischen Gerichtshöfen. Die in dieser Region ansässigen MuslimInnen folgten der hanefitischen Rechtsschule.14 Die Grundlagen des Fiqh und anderer islamischer Wissenschaften wurden in örtlichen Medresen studiert. Darüber hinaus knüpfte der nun unabhängige islamische Staat enge Beziehungen zu weiten Teilen der islamischen Welt, mit dem Osmanischen Reich wurde ein reger Handelsverkehr betrieben. Obwohl das Khanat ziemlich rasch seine Souveränität verlor und unter dem Einfluss des Osmanischen Reiches stand, behielten die Khane ein erhebliches Maß an Autonomie.15 Dies lag wahrscheinlich daran, dass die osmanischen Sultane die Herrscher des Khanats eher als Verbündete anstatt als Untergebene ansahen.

Im Zuge der unzähligen russisch-osmanischen Kriege im späten 18. Jahrhundert führte der stark wachsende russische Einfluss zur Zerstörung des Khanats.16 Nach der erzwungenen Eingliederung der Krim und der Südukraine durch Russland wurde zunächst versucht, die islamisch geprägten Lebensumstände in diesem Gebiet in das russische Umfeld zu integrieren.

Trotz des untergeordneten Status des Islams im Russischen Reich kam es zur Entstehung von diversen muslimischen und auch nationalistischen Bürgerinitiativen unter den Krimtataren. Die Krim erlebte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine religiöse Renaissance, die sich besonders in den Werken des muslimischen Intellektuellen Ismail Gasprinski (gest. 1914) widerspiegelt.17 Gasprinski forderte die Erneuerung und Modernisierung von bereits vorhandenen Methoden der islamischen Bildung, Reformen im Bereich des gesellschaftlichen Lebens der MuslimInnen sowie ihre aktive Partizipation an politischen Entwicklungen. Er gilt bis heute als einer der Protagonisten des „Euro-Islam“.18

Nichtsdestotrotz begann die schwierigste Phase für die MuslimInnen in der Ukraine nach der Revolution der Krimtataren im Jahre 1917. Die kommunistische Ära entwickelte sich zur größten Tragödie für die Krimtataren. Trotz einiger weniger positiver Entwicklungen in den 1920er Jahren wurden die Krimtataren in ihren ethnischen und religiösen Rechten massiv eingeschränkt. Es kam zur Zerstörung von Moscheen, Repressionen gegen die Geistlichen sowie zum Verbot, Kinder und Jugendliche in den Grundlagen ihrer religiösen Kultur und Tradition zu unterweisen.19 Im Mai 1944 wurde schließlich fast die gesamte tatarische Bevölkerung der Krim unter der Anschuldigung, die nationalsozialistischen Streitmächte unterstützt zu haben, nach Zentralasien und Sibirien deportiert.20 Unterschiedlichen Angaben zufolge starben in diesen Verbannungsorten zwischen 20 und 40 Prozent der Vertriebenen an Durst, Hungersnot und Krankheiten.21 Jegliche Spuren der einstmaligen islamischen Zivilisation auf der Krim und in der Ukraine, wie Gebetshäuser, islamische Institutionen und Ortsnamen, wurden konsequent beseitigt bzw. zerstört.22 Aufgrund der steten Bemühungen einiger weniger islamischer Geistlicher, welche sich in verschiedenen ukrainischen Städten aufhielten, wurde das islamisch-religiöse Wissen insgeheim von einer Generation zur nächsten weitergegeben und konnte so teilweise aufrechterhalten werden.

In den darauffolgenden Jahrzenten kehrten einige deportierte Krimtataren illegal in ihre Heimatländer zurück, jedoch war eine gesetzmäßige Massenrückführung erst nach 1989 realisierbar.23 Das Aufkommen der dynamischen Wiederbelebung des Islams in der Ukraine ist mit dem Jahr der Unabhängigkeit 1991 verbunden.24 Es kam zur Gründung neuer religiöser Institutionen sowie verschiedener islamischer, nichtstaatlicher Organisationen. Die nach wie vor höchst umstrittene russische Besetzung der Krim, welche vor dem Referendum im Jahre 2014 noch als autonomes Gebiet zur Ukraine gehörte, und der gewaltsame Konflikt in der ukrainischen Stadt Donezk wirkten sich äußerst schwerwiegend auf die dort ansässige islamische Bevölkerung aus.25 Aufgrund der Annexion der Krim lebt der Großteil der MuslimInnen auf nicht mehr von der Ukraine kontrolliertem Territorium. Unzählige Krimtataren verließen deshalb die Halbinsel Krim in Richtung des Festlandes der Ukraine, da die tatarische Minderheit nach wie vor mehrheitlich den Anschluss ihrer Heimat an Russland missbilligt.26

Islamische Bildungsmöglichkeiten

Seit den 1990er Jahren gibt es an verschiedenen Orten der Ukraine sogenannte Sonntagsschulen, wie in den Moscheen in Kiew, Charkiw, Donezk oder Dnipro. Die einflussreiche NGO „Alraid“, welche 1997 in Kiew gegründet wurde, eröffnete mehr als zehn solcher Sonntagsschulen.27 Der Lehrplan konzentriert sich auf das Erlernen der arabischen Sprache und die Grundlagen des islamischen Glaubens. Die islamische Ethik wird auch thematisiert. Interessanterweise sind diese Schulen für jede Konfession zugänglich.28 Im Jahr 2018 soll es im kontinentalen Teil der Ukraine 75 dieser sogenannten „Sonntagsschulen“ gegeben haben. Ihre Zahl wird jedoch höher geschätzt, da das ukrainische Gesetz die Tätigkeit von religiösen Bildungsaktivitäten ohne offizielle Registrierung duldet.29 

Für die mittlere Stufe der islamischen Erziehung existieren zwei unterschiedliche Arten von Bildungsstätten: Zum einen Schulen, die religiöse und zugleich weltliche Erziehung anbieten, und zum anderen rein religiöse Schulen. Das ukrainische Gesetz von 2015 erlaubt obendrein die offizielle Beglaubigung von Abschlüssen solcher religiösen Schulen.30 Eine dieser Schulen ist die staatliche Privatschule „Our Future“, die 2014 von „Alraid“ mit Hilfe von Förderungen aus Kuwait und anderen arabischen Ländern eröffnet wurde.31 Neben den Pflichtfächern (wie Ukrainisch, Geschichte, Englisch, Arabisch etc.) wird auch ein religiöses Fach mit der Bezeichnung „Ethik und Kultur des Islams“ angeboten. Hier werden bedeutende moralische Themen behandelt, die besonders die Vorzüge des edlen Charakters sowie die Beziehung zu anderen MuslimInnen und Andersgläubigen abdecken sollen.32 Der Lehrplan orientiert sich an einem sogenannten „gemäßigten“ Islam (wasaṭīya), welcher sich nicht nur auf eine einzige islamische Rechtsschule stützt.33

Die meisten AbsolventInnen dieser Schulen gingen ins Ausland, um dort eine höhere islamische Ausbildung abzuschließen, da es lange Zeit keine entsprechende Institution in der Ukraine gab. Aufgrund der hohen Nachfrage wurde die Islamische Universität Kiew erbaut, welche in Kooperation mit der Ar-Rahma-Moschee unter der Leitung von Ahmed Tamim, dem Mufti der „Religiösen Verwaltung der Muslime der Ukraine“ stand.34 Ihre religiöse Lehre basiert auf der Gruppierung der al-Aḥbāš, die von dem libanesischen Rechtsgelehrten ʿAbdullāh al-Hararī (gest. 2008) gegründet wurde. Nach positiver Beendigung des vierjährigen Studiums erhalten AbsolventInnen ein Imam Hatip-Diplom, welches dazu berechtigt, als Prediger aufzutreten und zu arbeiten.35

1 Vgl. Mykhaylo Yakubovych: »Islam and Muslims in Contemporary Ukraine. Common Backgrounds, Different Images, Religion, State & Society«, in: Religion, State & Society, Vol. 38, No. 3 (2010), S. 291-304.

2 Vgl. eeo.aau.at: Krimtataren, https://eeo.aau.at/eeo.aau.at/index67a6.html?title=Krimtataren, abgerufen am 28.10.2021.

3 Vgl. ebd.

4 Vgl. Wolfgang Schulze: »Krimtatarisch«, in: Miloš Okuka/Gerald Krenn (Hg.): Wieser Enzyklopädie des Europäischen Ostens 10 (2002), S. 799-804, hier S. 800.

5 Mykhaylo Yakubovych: »Ukraine«, in: Yearbook of Muslims in Europe, Vol. 7 (2016), S. 592-606, hier S. 600f.

6 Vgl. M. Yakubovych 2010, S. 294.

7 Vgl. ebd., S. 292.

8 Ebd.

9 Vgl. Andreas Roth: Chasaren. Das vergessene Großreich der Juden, Neu-Isenburg: Melzer-Verlag 2006, S. 39.

10 Vgl. ebd., S. 85.

11 Vgl. M. Yakubovych 2010, S. 292.

12 Vgl. Anton Grabner-Haider/Johann Mair/ Karl Prenner: Kulturgeschichte des späten Mittelalters. Von 1200 bis 1500 n. Chr., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 213.

13 Vgl. Omeljan Pritsak: »Das erste türkisch-ukrainische Bündnis«, in: Oriens 6 (1953), S. 266-298, hier S. 271f.

14 Vgl. M. Yakubovych 2010, S. 294.

15 Vgl. web.archive.org: Khan Palace in Bakhchisaray. RISE OF BAKHCHISARAY, https://web.archive.org/web/20120717062407/http://www.hansaray.org.ua/e_ist_bgcs.html, abgerufen am 29.10.2021.

16 Vgl. M. Yakubovych 2010, S. 293.

17 Vgl. ebd.

18 Vgl. Edward J. Lazzerini: »Ismail Bey Gasprinskii, (Gaspirali). The Discourse of Modernism and the Russians«, in: Tatars of the Crimea: Return to the Homeland, New York: Duke University Press 1996, S. 48-70, hier S. 69.

19 Vgl. owep.de: Islam in der Ukraine (Bericht), https://www.owep.de/artikel/79-islam-in-ukraine, abgerufen am 25.10.2021.

20 Vgl. ebd.

21 Vgl. germany.mfa.gov.ua: 76. Jahrestag der Deportation der Krimtataren aus der Krim, https://germany.mfa.gov.ua/de/news/76-i-rokovini-deportaciyi-krimskotatarskogo-narodu, abgerufen am 27.10.2021.

22 Vgl. M. Yakubovych 2010, S. 293.

23 Vgl. Mykhaylo Yakubovych: Islamische Erziehung in Weißrussland, Ukraine, Moldawien und Rumänien, (o. J.), S. 3.

24 Vgl. ebd.

25 Ebd.

26 Vgl. swp-berlin.org: Am Rande der Ukraine-Krise. Die Krimtataren nach der Annexion ihrer Heimat durch Russland, https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2014A27_hlb.pdf, abgerufen am 28.10.2021.

27 Vgl. M. Yakubovych (o. J.), S. 6.

28 Vgl. arraid.org: First Muslim gymnasium “Our Future” opens its doors, https://www.arraid.org/en/node/4057, abgerufen am 28.10.2021.

29 Vgl. M. Yakubovych (o. J.), S. 7.

30 Ebd.

31 Vgl. arraid.org: First Muslim gymnasium “Our Future” opens its doors, https://www.arraid.org/en/node/4057, abgerufen am 28.10.2021.

32 Vgl. ebd.

33 Islamische Erziehung in Weißrussland, Ukraine, Moldawien und Rumänien, Mykhaylo Yakubovych, S. 7.

34 Vgl. M. Yakubovych (o. J.), S. 7.

35 Vgl. Ali Özgür Özdil: Islamische Theologie und Religionspädagogik in Europa, Stuttgart: W. Kohlhammer 2011, S. 159.

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