Die Murǧiʾa – eine parteilose Gruppierung aus der frühislamischen Zeit

Artikel 24.09.2018 Redaktionsteam

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Murǧiʾa, einer frühislamischen Bewegung, die sich wahrscheinlich im Laufe des ersten Schismas bildete, bei der es um die Frage ging, wer der rechtmäßige Nachfolger des Propheten Muhammad sein sollte. Diese Bewegung zeichnete sich dadurch aus, dass sie sich eines Urteils bezüglich der Frage des rechtmäßigen Herrschers enthielt und jeden, der das Glaubensbekenntnis vollzog (unabhängig von seinen jeweiligen Taten) auch als gläubige/n MuslimIn ansah, was wiederum sowohl auf politischer als auch auf theologischer Ebene neue Perspektiven öffnete.


Anfänge der Murǧiʾa

Kurz nach dem Ableben des Propheten Muhammad (gest. 632 n. Chr.) kam es in der frühen muslimischen Gemeinde zu einer großen Spaltung, die auf die Frage beruhte, wer der rechtmäßige Nachfolger des Propheten sein sollte. Daraus resultierten wiederum zwei große Schlachten, die sogenannte Kamelschlacht (656 n. Chr.) und die Schlacht von Ṣiffīn (657 n. Chr.). Als Folge dieser beiden Bürgerkriege entstanden unterschiedliche politische sowie theologische Gruppierungen, nicht zuletzt eben auch jene Bewegung, die bis heute als Murǧiʾa bekannt ist. Diese Gruppe zeichnete sich dadurch aus, dass sie sich zwischen zwei extremen Positionen befand: nämlich der Position der Schiiten sowie der Ḫāriǧiten. Die Murǧiʾa nahm eine neutrale Stellung bei dem Konflikt ein, weshalb sie sich auch eines Urteils enthielt. Auch ʿAbdallāh ibn ʿUmar (gest. 693 n. Chr.), ältester Sohn des zweiten Kalifen ʿUmar ibn al-Chattāb (gest. 644 n. Chr.), soll ein Teil dieser Gruppe gewesen sein. Seine Worte fassen die Haltung der Murǧiʾa gut zusammen:1 „Für uns sind sie alle Gläubige. Wir ziehen uns weder von ihnen zurück noch verfluchen wir sie, noch legen wir Zeugnis für sie ab. Wir überlassen ihre Angelegenheiten Gott: Er wird über sie richten.“2

Ibn ʿUmar taucht bei vielen Werken auf, die als früh-murǧiʾitisch eingestuft werden. Er vertrat die Meinung, dass der jeweilig Herrschende akzeptiert werden müsse. Er war überzeugt davon, dass diese Akzeptanz gegenüber dem Herrscher eine Spaltung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft (und folglich grausames Blutvergießen) vermeiden würde.3 In diesem Zusammenhang ist es allerdings wichtig zu erwähnen, dass nicht immer von derselben Gruppe die Rede ist, wenn in den frühislamischen Werken von Murǧiʾa gesprochen wird. Je nach Zeit und Ort bezeichnete man mit dem Begriff unterschiedliche Bewegungen. Im Fall von ʿAbdallāh ibn ʿUmar meinte man, wenn man ihn als Murǧiʾit bezeichnete, wahrscheinlich, dass es sich bei ihm schlicht um eine neutrale Person handelte. Die Zuschreibung einer bestimmten Gruppe mit einheitlicher Lehrmeinung war somit in diesem Fall weniger gemeint.4 Ein Kennzeichen war allerdings stets die immer wieder betonte Zurückhaltung. Auch im Kitāb al-Irǧāʾ des Ḥasan b. Muḥammad b. al-Ḥanafīya (gest. 718), das das früheste bekannte Werk über die Murǧiʾa darstellt, wird dies (sowie weitere Thesen) behandelt.5 Allerdings ist die Schrift kein Buch, sondern es handelt sich hierbei um einen Brief, der wahrscheinlich gegen Ende des 7. Jahrhunderts n. Chr. entstand.6 Der Begriff Murǧiʾa selbst leitet sich aus dem Verb raǧaʾa ab und bedeutet aufschieben, verschieben, vertagen oder auf später verlegen. Im Gegensatz zu den Ḫāriǧiten, die die beiden Kalifen ʿUthmān und ʿAlī verurteilten, enthielten sich die Murǧiʾiten ein Urteil abzulegen und überließen diese Angelegenheit Gott allein.7 Das Substantiv irǧāʾ wiederum wird von Josef van Ess als „Zurückstellung des Urteils in Dingen, die den Menschen verborgen und bei denen sie nicht dabei gewesen sind“, definiert.8 Folglich trennte man zwischen den Taten (ʿamal) eines Muslims und seinem Glauben (īmān). Jeder der sich zum Islam bekannte, so die Doktrin, musste unabhängig von seinen Taten als Muslim angesehen werden. Deshalb maß man sich auch nicht an ʿUthmān und ʿAlī zu verurteilen. Ein Muslim bleibt dieser Ansicht nach, auch wenn er eine Sünde begangen haben sollte, immer noch ein Gläubiger. Bei einem Herrscher gilt dies genauso, wie bei jedem anderen.9 In der Praxis hatte dies auch während der Regierungszeit der Umayyaden Auswirkungen. Die Murǧiʾiten leugneten zwar nicht, dass diese sündhafte Handlungen begingen, dennoch akzeptierten sie ihre Regierung und unterstützten sie, da sie die Umayyaden trotz ihrer sündhaften Taten als Gläubige betrachteten. Die meisten Autoren stufen die Murǧiʾa deshalb als „königstreu“ ein.10

Die Murǧiʾa in Kufa: Der Briefwechsel Abū Hanīfas mit ʿUṯmān al-Battī

Als bedeutende und einflussreiche Bewegung wird die Murǧiʾa erst gegen 700 n. Chr. in Kufa greifbar, wobei es auch hier politische Auseinandersetzungen mit Schiiten und Ḫāriǧiten gab. In Kufa befand sich auch der berühmte Theologe und Rechtsgelehrte Abū Hanīfa (gest. 767), nach dem die hanafitische Rechtsschule benannt wurde. Weil er mit vielen murǧiʾitischen Ansichten sympathisierte, wird ihm nachgesagt, ebenfalls ein Anhänger dieser Gruppe gewesen zu sein.11 Er selbst hingegen lehnte die Bezeichnung strikt ab. Dies geht aus einem Briefwechsel hervor, den er mit ʿUṯmān al-Battī (gest. 760 n. Chr.) pflegte, der sich in Basra befand. Abū Hanīfa selbst bevorzugte die Bezeichnung ahl as-sunna (Anhänger der Sunna) oder ahl al-ʿadl (Anhänger der Gerechtigkeit Gottes).12  Laut van Ess spielte „das murǧiʾitische Credo“ für die in Kufa lebenden Leute aus politischer Sicht tatsächlich keine sonderlich große Rolle, da das „Zurückstellen“ des Urteils auf bestimmte (herrschende) Persönlichkeiten in diesem Kontext nicht relevant war. Das spezifisch murǧiʾitische sei vielmehr eine „theologische Grundsatzhaltung“ gewesen.13 In weiterer Folge begründet Abū Hanīfa seine These der Trennung zwischen Glauben und Taten. Der Prophet Muhammad habe nämlich zuerst lediglich den Glauben gefordert. Bestimmte Gebote, die nun gültig sind, kamen erst später dazu. Der Glaube sei demzufolge von dem Glaubensbekenntnis abhängig. Jede/r, der/die verkündet den Islam als Religion angenommen zu haben, gelte somit als MuslimIn. Der Glaube und die Glaubensakte seien somit getrennt voneinander zu betrachten. Wenn dies nicht geschehe, müsse man jede/n, der einen sündhaften Akt tätigt, als Ungläubige/n betrachten. Abū Hanīfa führt aus, dass der Glaube an sich nicht zu- oder abnehmen kann, bei den Taten jedoch sei dies sehr wohl der Fall.

Besonders in der aktuellen Zeit, in der unter einigen MuslimInnen die Praxis verbreitet wird, denen, die ihren Glauben anders verstehen, diesen abzusprechen, erscheint es sinnvoll sich in an diese frühislamische Tradition zu erinnern. Denn dies ist das Fundament einer pluralen Gesellschaft, die in Frieden zusammenleben will.

1 Ahmed Ziauddin: »A Survey of the Development of Theology in Islam«, in: Islamic Studies 11 (1972), S. 93-111, hier S. 94-95

2 Ebd., S. 95

3 Murat K. Hirsekorn: īmān und ʿamal im historischen Kontext der Denkschulen. Masterarbeit, Wien 2011, S. 28-29

4 Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Band 1: Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Band 1, Berlin: De Gruyter 1991, S. 153

5 Ebd., S. 177

6 M. K. Hirsekorn, S. 29

7 Ebd., S. 27-28

8 J. van Ess, S. 175

9 M. K. Hirsekorn, S. 31

10 W. M. Watt: »The Political Attitudes of the Mu'tazilah«, in: The Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland (1963), S. 38-57, hier S. 55

11 J. van Ess, S. 154

12 Ebd., S. 199

13 Ebd., S. 183

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