Die theologische Schule der Muʿtaziliten

Artikel 05.12.2022 Redaktionsteam

Dieser Beitrag handelt von der islamisch-theologischen Schule der Muʿtaziliten (auch: Muʿtazila). Zunächst wird allgemein auf die Schule eingegangen, im Anschluss werden die Prinzipien dieser theologischen Strömung dargelegt. Abschließend widmet sich der Beitrag der muʿtazilitischen Lehre über die Erschaffenheit des Korans sowie deren Konsequenzen im historischen Kontext des Abbasidenreiches.


Wer sind die Muʿtaziliten?

Im Laufe der Zeit haben sich im Islam verschiedene theologische Schulen herausgebildet. Denn schon kurz nach dem Tod des Gesandten Muhammad im Jahr 632 entstanden unter den Anhängern des Islams zahlreiche Meinungsverschiedenheiten. Aus kleinen Diskussionen entwickelten sich mit der Zeit zunehmend Streitigkeiten, angesichts derer sich die Kalifen verpflichtet sahen, diese unter Kontrolle zu bringen, um wieder Einheit unter den MuslimInnen zu schaffen. Es entstanden jedoch immer mehr Strömungen, wobei zu erwähnen ist, dass sich die meisten davon nicht durchsetzen konnten und bereits früh wieder verschwanden.1 Als man schließlich im 8. Jahrhundert begann, theologische Streitgespräche (kalām) mit Nicht-MuslimInnen sowie auch mit andersdenkenden MuslimInnen zu führen, entstanden mehrere große islamische Strömungen, die heute als theologische Schulen bezeichnet werden. Eine der ersten dieser theologischen Schulen war jene der Muʿtaziliten. Ihre streng rationalistische Auslegung der islamischen Glaubenslehre hat zu vielen Diskussionen mit anderen theologischen Schulen geführt, wobei insbesondere die Aschʿariten (auch Aschʿarīya) als Gegenpol zu den Muʿtaziliten angesehen werden. Diese kritisierten an den Muʿtaziliten vor allem die zu geringe Beachtung der Offenbarung. Die Muʿtaziliten erhielten Unterstützung durch viele abbasidische Kalifen, vor allem durch den mit Abstand am häufigsten in der Literatur genannten, al-Maʾmūn (gest. 833).2 Dieser bestärkte die Muʿtaziliten darin, ihre Ansichten unter der breiten Masse bekannt zu machen, wodurch sie sich bis ins 12. Jahrhundert in der Region des heutigen Iraks bedeutenden Einfluss sichern konnten.3

Anders als bei anderen theologischen Schulen, kennt man bei den Mu’taziliten keinen Begründer, nach dem die Schule benannt ist. Jedoch stößt man oft auf den Namen Wāsil ibn ʿAtāʾ (gest. 748), der das islamische Reich bereiste, um seine Ansichten zu verbreiten. Er wird mehrheitlich als der Begründer der Mu’taziliten angesehen, der sich, wenn auch noch nicht systematisch, mit fünf Prinzipien auseinandersetzte: Einheit Gottes, Freiheit der menschlichen Handlungen, Gerechtigkeit Gottes, Zwischenstellung zwischen Glauben und Unglauben und das Gute gebieten und Schlechte verbieten. Zur Bezeichnung Muʿtazila gibt es verschiedene Erklärungsversuche, jedoch keinen Konsens über einen davon.

Den Beginn der Muʿtazila-Schule führen Historiker auf einen Vorfall zurück, der sich im Rahmen eines Dialogs während eines Vortrags von Ḥasan al-Baṣrī (gest. 728) ergab: Eines Tages hielt al-Baṣrī seinen Vortrag in der Moschee von Basra, als jemand zu ihm kam und ihn fragte, was das Schicksal desjenigen wäre, der eine schwere Sünde begangen habe, und ob dieser dann als Gläubiger oder Ungläubiger gelten würde. Al-Baṣrī sah sich daraufhin in einem Zwiespalt und wusste keine Antwort. Aufgrund dessen brach sein Schüler Wāsil ibn ʿAtāʾ das Schweigen und gab zur Antwort, dass ein solcher Mensch weder als Gläubiger noch als Ungläubiger zu bezeichnen sei. Daraufhin verließ Wāsil ibn ʿAtāʾ den Kreis und ging in eine andere Ecke der Moschee, um die eigenen Ansichten zu lehren.4

Die muʿtazilitische Schule war auch eine erste Antwort der islamischen Zivilisation auf die Herausforderung des griechischen Denkens – die griechische Philosophie übte auf die weitere Herausbildung der muʿtazilitischen Lehre großen Einfluss aus: So studierten die Muʿtaziliten die griechischen Philosophen, übernahmen oder vermischten deren Lehren mit jenen der ersten und früheren muslimischen Philosophen. Aufgrund der großen Übersetzungsbewegungen unter den Kalifen al-Manṣūr und al-Maʾmūn war es den Muʿtaziliten möglich, die griechisch-philosophischen Lehren zu studieren und sie vor allem mit ihren muslimischen Ansichten in Einklang zu bringen.5

Die fünf Prinzipien der Mu’taziliten

Die Mu’taziliten halten an fünf Grundprinzipien fest. Die Formulierung der sogenannten „Fünf Prinzipien“ kann zum Teil zu Abū al-Hudhayl al-ʿAllāf (gest. ca. 849) zurückverfolgt werden, wobei die vollständige und ausführliche Version aus einer viel späteren Zeit stammt und ʿAbd al-Ǧabbār (gest. 1024) zugeschrieben wird – zu einer Zeit, als die Lehre der Mu'taziliten eine systematische und scholastische Form annahm.

Einheit Gottes (tauhīd)

Das erste Prinzip der Muʿtaziliten, auf das sie in Streitgesprächen und Argumenten immer wieder Bezug nehmen, ist die Einheit Gottes (tauhīd). Gott allein ist ewig, weswegen Muʿtaziliten es kritisieren, wenn Gott menschliche Attribute zugesprochen werden, denn folglich müssten diese Attribute dann auch Teil der Göttlichkeit sein.

Freiheit der menschlichen Handlungen

Der zweite Grundsatz besagt, dass der Mensch in seinen Handlungen völlig frei und selbst in der Lage ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und zu wählen. Deswegen sind die Muʿtaziliten auch große Befürworter des freien Willens. Außerdem seien Gut und Böse abstrakte Begriffe und hingen nicht von der Offenbarung ab.

Gerechtigkeit Gottes (ʿadl)

Das nächste wichtige Prinzip ist die Gerechtigkeit Gottes (ʿadl): Gemäß den Prinzipien der Gerechtigkeit werden die Menschen entweder eine angemessene Belohnung oder Bestrafung erhalten, wobei der Gelehrte al- Ġazālī (gest. 1111) hierbei der Meinung ist, dass Gott, wenn er will, auch einen guten Menschen bestrafen und einen Sünder belohnen kann. Er tut es zwar nicht, da er nach dem Prinzip der Gerechtigkeit handelt, ist aber in der Lage dazu, wenn Er es wünscht.

Zwischenstellung zwischen Glauben und Unglauben

Das vierte Prinzip ist die so genannte Zwischenstellung zwischen Glauben und Unglauben, wobei die Sünder weder als vollständig gläubig noch als ungläubig angesehen werden können (diese Zwischenstufe wird im Arabischen mit al-manzila baina l-manzilatain bezeichnet). Durch die Annahme dieses Prinzips setzten die Mu'taziliten im Grunde genommen die Rechtsprechung darüber aus, wer von ʿAlī und Muʿāwiya im Unrecht war und nahmen damit die Position ein, dass solche Angelegenheiten der Entscheidung Gottes im Jenseits überlassen werden.

Das Gute gebieten und das Böse verbieten

Der fünfte und letzte Grundsatz besagt, den Glauben zu verteidigen, selbst wenn das eigene Leben auf dem Spiel steht, und sich zu bemühen, das Böse zu verhindern. Kurz gesagt „Gebiete das Gute und verbiete das Böse".6

Über die Erschaffenheit des Korans und die miḥna

Kaum ein anderes Thema stand so oft im Fokus von Streitgesprächen zwischen Muʿtaziliten und anderen Schulen, wie die Frage, ob der Koran erschaffen sei oder nicht. Muʿtaziliten waren große Befürworter der Idee von der Erschaffenheit des Korans (ḫalq al-qurʾān). Hierbei waren sie der Ansicht, dass der Koran die direkte Rede Gottes und von Ihm erschaffen sei. Gott sei keiner Veränderung unterworfen. Daher sei es unmöglich, dass der Koran im Sinne eines Attributs ungeschaffen und ewig sei – was von vielen gegnerischen Strömungen behauptet wird –, denn er sei vielfältig und zeitlich. Der berühmte mu’tazilitische Koranexeget az-Zamaḫšarī gibt in seiner Koraninterpretation auch sehr viele Anzeichen für diese Lehre. Der Erschaffenheit des Korans hat er sogar das Vorwort gewidmet. Darin sagt er, dass Gott weit über dem Koran stehe und deswegen der Koran nicht ewig sein könne, da nur Gott ewig sei. Sein Werk, der Koran, sei demnach erschaffen. Sein Auftreten stelle die vorherige Nichtexistenz dar. Daher ist der Koran ein Ereignis von Phänomenen und erschaffen.7 Um diese Lehre vom erschaffenen Koran durchzusetzen, organisierte der Kalif al-Maʾmun eine Inquisition namens miḥna (arab.: Prüfung)8. Dabei wurde festgelegt, dass Theologen und Juristen mit gegenteiligen Ansichten verfolgt und gezwungen werden sollten, aus ihrer theologischen Schule auszutreten und der Ansicht der Muʿtaziliten über die Erschaffenheit des Korans zu folgen. Unter den Opfern der miḥna war auch der berühmte Traditionalist Ahmad Ibn Hanbal (gest. 855). Mithilfe der Durchsetzung der muʿtazilitischen Theologie versuchte der Kalif seine eigene Autorität nicht nur auf politischer, sondern auch auf religiöser Ebene zu etablieren und beanspruchte für sich eine Funktion, die den Religionsgelehrten vorbehalten war. Die miḥna  wurde jedoch nicht nur von traditionalistischen und konservativen Rechtsgelehrten, sondern auch vom Großteil des Volkes abgelehnt. Aufgrund dessen war der theologische und politische Plan des Kalifen letztlich zum Scheitern verurteilt.9

Fazit

Die Muʿtaziliten waren Anhänger einer theologischen Schule des Islams, die vor allem zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert im damaligen Abbasidenreich präsent war. Durch ihre – im Gegensatz zu den orthodoxen und traditionellen theologischen Schulen – liberalen Ideen und Prinzipien sahen sie sich stets dazu bereit, in Streitgesprächen ihre Ansichten zu verteidigen. Dazu gehörten die Lehre über den freien Willen sowie über die Erschaffenheit des Korans. Letztere hat durch die politische Unterstützung des Kalifen sogar zu einer Inquisition im Lande geführt, durch welche die Menschen gezwungen wurden, die mu’tazilitische Meinung anzunehmen und ihre eigene, davon abweichende zu verwerfen. Dieser Abschnitt der Geschichte der Muʿtaziliten zeigt deutlich, dass die Muʿtaziliten nicht nur (romantisierte) Verteidiger des freien Denkens waren, sondern für die Durchsetzung ihres Gedankenguts auch bereit waren, Gewalt anzuwenden.

Ab dem 11. Jahrhundert wurde die mu’tazilitische Lehre in schiitischen Kreisen weitergepflegt. Heute scheinen die Ideen der Muʿtaziliten wiederbelebt zu werden, was sich an der großen Auswahl an Literatur zeigt. Des Weiteren gibt es auch unter modernen Theologen einige Vertreter mu’tazilitischer Ansichten, wie beispielsweise Naṣr Ḥāmid Abū Zaid (gest. 2010), Harun Nasution (gest. 1998) und Ismāʿīl Rāǧī al-Fārūqī (gest. 1986).10

1 Vgl. Heinrich Steiner: Die Mutaziliten als Vorläufer der islamischen Dogmatiker und Philosophen. Nebst Anhang, enthaltend Kritische Anmerkungen zu Ġazzâli's Munkid, Breitkopf und Härtel 1865, S. 1 f.

2 Vgl. William Montgomery Watt: Politische Entwicklungen und theologische Konzepte (= Die Religionen der Menschheit, Band 25,2), Stuttgart: Kohlhammer 1985, S. 235-237.

3 Vgl. Massimo Campanini: »The Mu‘tazila in Islamic History and Thought«, in: Religion Compass 6 (2012), S. 41-50, hier S. 41.

4 Vgl. M. Saeed Sheikh: Studies in Muslim Philosophy, Lahore: Sh. Muhammad Ashraf 1974, S. 4.

5 Vgl. H. Steiner 1865, S. 5.

6 Vgl. M. Campanini 2012, S. 44 f.

7 Vgl. Kifayat Ullah: Al-Kashshaf. Al-Zamakhshari's Mu'tazilite Exegesis of the Qur'an, Berlin/Boston: De Gruyter 2017, S. 113-117.

8 Vgl. Peter Adamson: »Al-Kindī and the Mu‘tazila: Divine Attributes, Creation and Freedom«, in: Arabic Sciences and Philosophy 13 (2003), S. 45-77, hier S. 45.

9 Vgl. M. Campanini 2012, S. 45.

10 Vgl. Neo-Muʿtazilismus? Intention und Kontext im modernen arabischen Umgang mit dem rationalistischen Erbe des Islam (= Islamic philosophy, theology and science, 71), Leiden, Boston: Brill 2010, S. 178.

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