Erlaubt der Koran Männern, Frauen zu schlagen?
Zunächst soll der betreffende Vers, der für so viele Jahrhunderte Grundlage von hitzigen Debatten geworden ist, hier in seinem Wortlaut – einmal in der Übersetzung von Muhammad Asad1, einmal in der von Max Henning2 – zitiert werden.
„DIE MÄNNER sollen für die Frauen vollständig Sorge tragen mit den Wohltaten, die Gott den ersteren reichlicher erteilt hat als den letzteren, und mit dem, was sie von ihren Besitztümern ausgeben mögen. Und die rechtschaffenen Frauen sind die wahrhaft demütig Ergebenen, welche die Intimität hüten, die Gott zu hüten (verordnet) hat. Und was jene Frauen angeht, deren Übelwollen ihr Grund zu fürchten habt, ermahnt sie (zuerst); dann laßt sie allein im Bett; dann schlagt sie; und wenn sie daraufhin auf euch acht geben, sucht nicht ihnen zu schaden. Siehe, Gott ist fürwahr allerhöchst, groß.“
Soweit Asads Übersetzung, welche ergänzt ist durch eine über zwei Seiten sich ziehende Interpretation des Gesagten und darin sowohl die Erläuterung von Schlüsselbegriffen in ihren möglichen Übersetzungen aus dem Arabischen ins Deutsche, sowie die Kontextualisierung und Ergänzung durch Hadithe aus sicheren Überlieferungsketten und Interpretationen von wichtigen islamischen Gelehrten wie Muḥammad ibn Idrīs aš-Šāfiʿī (gest. 820) und Abū ʿAbd Allāh Muḥammad b. ʿUmar b. al-Ḥusain Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209).
Nun die Übersetzung von Max Henning:
„Die Männer sind den Weibern überlegen wegen dessen, was Allah den einen vor den anderen gegeben hat, und weil sie von ihrem Geld (für die Weiber) auslegen. Die rechtschaffenen Frauen sind gehorsam und sorgsam in der Abwesenheit (ihrer Gatten), wie Allah für sie sorgte. Diejenigen aber, für deren Widerspenstigkeit ihr fürchtet – warnet sie, verbannt sie in die Schlafgemächer und schlagt sie. Und so sie Euch gehorchen, so suchet keinen Weg wider sie; siehe, Allah ist hoch und groß.“
Max Henning führt keinerlei Kommentierung zu seiner Übersetzung an.
Als Quellen, die für eine Interpretation (tafsīr) herangezogen werden können, sind v.a. der Koran selbst zu nennen, ferner die Tradition des Propheten (Sunna), die in Hadithen mit authentischer Überlieferungskette die Alltagspraxis sowie religiöse Deutungen des Propheten überliefert, sowie Anlässe, die sich rund um die Offenbarung bestimmter Suren rekonstruieren lassen (asbāb an-nuzūl). Wie im Falle von Asads Übersetzung sehr gut erkennbar ist, kommt in übersetzter Form der Sure als Interpretationsleistung auch die genaue Kenntnis des Arabischen, seiner expressiven Vielfalt, Grammatik und Logik hinzu als unerlässliche Quelle des besseren Verständnisses.
Im Folgenden soll eine kurze Zusammenfassung folgen, wie traditionelle Ansätze in der Interpretation der oben genannten Sure vorgingen und was sie von zeitgenössischen Ansätzen in der Akzentsetzung unterscheidet. Vorangestellt werden soll dabei, dass eine Mehrheit der Übersetzungen davon ausgeht, dass es sich beim Verb daraba um den arabischen Begriff für „schlagen“ handelt, der arabische Wortlaut in der betreffenden Sure ist: „wa-ḍribū-hunna“ – „und schlagt sie“. Selbst hier gibt es jedoch neuere Arbeiten, die dies in Zweifel ziehen: Beispielsweise expliziert die Autorin Laleh Bakhtiar dies im Hinblick auf die Übersetzung ins Englische3.
Als Anlass, zu dem die Sure offenbart wurde, wird ein Streit zwischen einem Mann und seiner Frau angeführt4, der darin eskaliert, dass der Mann seine Frau schmerzhaft schlägt, die Reaktion des Propheten wird zunächst so beschrieben, dass er eine Wiedervergeltung der Tat rät (d.h. der Frau Recht gibt), jedoch diesen Schiedsspruch zurück zieht, nachdem kurz nach dem Ereignis die betreffende Sure geoffenbart wurde. Wie Asad und viele anführen, gibt es eine Tradition, der zufolge Muhammad gesagt haben soll „Ich wollte etwas, aber Gott wollte etwas Anderes. Was Gott wollte, ist besser“5. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass es sich in der Deutung um die Verantwortung der Frau handelte, die die Reaktion durch ihr Verhalten provoziert habe. Das Verhalten wird im Arabischen als „nušūz“ beschrieben, d.h. wörtlich „widerspenstig“, „ungehorsam“, „rebellisch“, bei Asad als „übelwollend“ bezeichnet, es handelt sich also um eine absichtliche Missachtung oder Zuwiderhandlung von ziemlichem und ehelich ‚angemessenem‘ Benehmen/Verhalten.
Traditionelle Lesarten des Verses gehen davon aus, dass Männer Frauen überlegen seien (arabischer Wortlaut: „ar-riǧālu qauwāmūn ʿalā n-nisāʾ“) und ihnen somit von Gott die Autorität verliehen ist, ungehorsame Ehefrauen durch Schlagen zu disziplinieren. Dagegen hat sich besonders seit dem 20. Jahrhundert, in welchem nicht nur in westlichen Gesellschaften der Kampf für Gleichberechtigung und Frauenrechte eine wichtige Stellung bekam, Widerstand geregt: Besonders die historische Kontextualisierung6 und der Verweis auf die persönliche Haltung und Lebensführung des Propheten als Vorbild wurden verstärkt in den Vordergrund gerückt7. Aus seinem Leben ist in keinem einzigen Hadith bekannt, dass er jemals eine Frau geschlagen hätte, allgemein wird er als äußerst sanftmütig beschrieben, wenn es um persönliche Beziehungen und seinen Umgang mit Anderen - eingeschlossen sind hier beispielsweise Unterhaltungen mit Frauen aus der Gemeinde ebenso wie mit Verwandten und Ehefrauen - ging. Auch hier macht die Übersetzung im nichtarabischsprachigen Kontext einen großen Unterschied: Hartmut Bobzin8 etwa übersetzt die betreffende Passage „Die Männer stehen für die Frauen ein“, was ähnlich wie Asads Übersetzung die finanzielle und moralische Verantwortung, auch im Sinne des Schutzes und der Fürsorge, des Ehemannes über seinen Haushalt, d.h. auch seine Frau(en), unterstreicht.
Beschäftigt man sich mit gelehrten Autoritäten und ihren Interpretationen, die schon weit vor dem 20. Jahrhundert richtungsweisend für große Teile der muslimischen Gemeinschaft waren, so wird anhand des Beispiels von aš-Šāfiʿī deutlich, dass es bereits sehr früh divergierende Meinungen und Deutungen gab. Der Gelehrte geht in Anlehnung an den Koran davon aus, dass die Ehefrau unter bestimmten Voraussetzungen geschlagen werden kann, jedoch zitiert er den Propheten mit den Worten „der Beste unter Euch wird sie nicht schlagen“ und betont die Möglichkeit der freien Wahl von Ehemännern, sich in der betreffenden Situation gegen die Züchtigung zu entscheiden: „we choose what the messenger of God chose himself, and we prefer that the husband does not beat his wife when she goes too far against him in her words and similar things“9. Zudem wird von nahezu allen Interpreten betont, dass es in der Ehe kein Schlagen geben solle, das tatsächlich in Verwundung oder Schmerzen ausarten solle – es wird daher meist hinzugefügt „schlagt sie (leicht)“10.
Allein anhand dieser beiden ausgewählten, im deutschsprachigen Raum neben den Übersetzungen von Rudi Paret11 und Hartmut Bobzin12 sehr verbreiteten Koranübersetzungen wird deutlich, wie unterschiedlich die Atmosphäre wird, die über die Worte hinaus transportiert wird und wie sehr wir sofort in unserer Einordnung und Reaktion auf unseren heutigen Sprachgebrauch zurückgeworfen werden. Es wird auch erneut deutlich, wieviel Interpretation bereits in einer ‚wörtlichen‘ Übersetzung stets enthalten ist. Ferner kann das Beispiel die Wirkung auf ein bestimmtes Bild, das sich bei uns als Zuhörer von außen prägt, oder auch auf die Haltung, die sich in uns als Gläubige in der Innenperspektive entwickelt, verdeutlichen. Dies ist nur eine Bemerkung am Rande, jedoch ist es genau dies, was sich in der jahrhundertelangen innerislamischen Debatte zu diesem Vers wie ein roter Faden nachvollziehen lässt: Nicht nur für den Fall der Übersetzung in eine andere Sprache werden unterschiedliche Aspekte betont, außer Acht gelassen oder von anderen Übersetzungen übernommen oder verworfen – dies ist auch der Fall für die Quellen der Interpretation, die Gelehrte betonen und vernachlässigen, kritisieren oder als (un-)wichtig ansehen. Die Ergebnisse gelehrter Interpretationsarbeit prägen jeweils einen Zeitgeist, der teilweise abweichen kann vom Zeitgeist, in den die Offenbarung selbst situiert ist:
„In both the pre-modern and the modern periods, the specific discourse on women opens the door to the wider question of how sources are used and appropriated in each age, by clerics of different schools of law and ideological affiliations.”13
Gerade an dieser oft zitierten Sure lässt sich nachvollziehen, wie in jeder Generation muslimischer Gelehrter die Frage nach historischer Kontextualisierung, Interpretationsmethoden und genauer Kenntnis der sprachlichen, grammatikalischen und logischen Hintergründe von Koranformulierungen immer neu verhandelt werden muss.
Aus diesem Grund ist dieser Koranvers unter Berücksichtigung seines historischen Kontextes als ein Modell bzw. ein Vorschlag zu verstehen, der einer Gesellschaft unterbreitet worden ist, in der die Stellung der Frau weit hinter der aktuellen gelegen ist. Diesen Vers als einen für alle Zeiten gültige Anordnung zu sehen, wie es oft in klassischen Quellen, aber auch in manchen konservativen Kreisen noch heute der Fall ist, ist ein Zeichen dafür, dass nicht der Sinn der Aussage, sondern die wortwörtliche Bedeutung favorisiert wird. Die Gleichstellung von Frau und Mann ist im Koran auffällig oft erwähnt worden, sodass es geradezu unverantwortlich erscheint, diesen einzelnen Vers als Argumentation zur Legitimierung von Gewalt oder irgendeiner Überlegenheit gegenüber der Frau zu verwenden. Um das Potential heiliger Texte auch in der Gegenwart aufzeigen zu können, müssen diese aus dem gegenwärtigen Kontext gelesen und gedeutet werden. In diesem Zusammenhang sei darauf aufmerksam gemacht, dass auch der oben genannte Vers nur dann richtig verstanden werden kann, wenn der Entstehungskontext mitberücksichtigt wird. Die Übertragung der Verantwortung auf den Mann gründet wahrscheinlich auf dem marginalen Status, den Frauen aufgrund der damaligen gesellschaftlichen Struktur gehabt haben. Diese historische Tatsache darf nicht ausgeblendet werden, um den genannten Vers als Aufruf zur Gewaltanwendung gegenüber der Frau zu interpretieren, sondern kann vielmehr als Aufruf gelten, die Beziehungen zwischen Frau und Mann unter Berücksichtigung der aktuellen gesellschaftlichen Realität zu betrachten bzw. neu zu definieren. Es spricht nichts dagegen, dass Musliminnen und Muslime ihren heiligen Text neu interpretieren und von der bestehenden Realität ausgehend auch neu verstehen.