Madrasa im Wandel der Zeit

Artikel 10.12.2021 Redaktionsteam

Dieser Beitrag stellt eine allgemeine Einführung in die Institution der Madrasa dar. Zu Beginn werden die Etymologie und die verschiedenen Typen beschrieben. Anschließend werden die Entstehung und Entwicklung der Madrasa im Kontext der Niẓāmīya erörtert. Zu guter Letzt wird die Madrasa in der Moderne analysiert, gefolgt von einem knappen Fazit.


Die Madrasa ist die Lehreinrichtung für höhere islamische Bildung schlechthin.1 Der arabische Begriff madrasa oder medrese (Pl. madāris) leitet sich von der trikonsonanten Wurzel d-r-s ab und bedeutet schlichtweg „Ort des Studiums“ oder auch „Ort des Unterrichts“.2 Etymologisch gesehen wohnt dem Wort Madrasa nicht zwingend eine religiöse Konnotation inne. Im modernen Sprachgebrauch steht Madrasa für jegliche Art von Bildungseinrichtung, im Besonderen für die islamischen juristisch-theologischen Hochschulen.3 Im historischen Kontext des Islams bezieht sich das Wort Madrasa in erster Linie auf eine spezielle Art von Institution, an welcher auf professioneller Ebene das islamische Recht und die damit verknüpften Fachgebiete gelehrt wurden. Im Englischen sowie im Deutschen wird aufgrund dessen die Bezeichnung Madrasa oftmals mit „College of Law“ bzw. „Hochschule für islamisches Recht“ wiedergegeben.4 Somit umfasst der gegenwärtige Begriff Madrasa mehrere Institutionen, die mehr oder weniger miteinander verknüpft sind: 1. Koranschulen (kuttāb/maktab), 2. Schulen des islamischen Rechts/Rechtsschulen (madāris fiqhiyyah) und 3. Hochschulen.5

Entstehung und Entwicklung der Madrasa

In ihrer Entstehungsphase waren die frühesten Madrasas zunächst noch Teil einer größeren Moschee oder eines Gebetsraums (masǧid). Das Curriculum bestand anfangs aus dem Auswendiglernen des Korans und der Sunnah des Propheten Muhammad.6 In dieser Phase beschäftigten sich die Studierenden (ṭālib/muṯaqqaf/faqī) eingehend mit der arabischen Sprache, um den Koran besser begreifen, erklären und auslegen zu können. Dadurch entstanden durchgehend neue Formen der Sprachwissenschaften wie Grammatik, Rhetorik, Phonologie und Syntax, welche als unentbehrliche Werkzeuge für die Deskription und Interpretation religiöser Texte eingesetzt wurden. Des Weiteren befasste man sich intensiv mit der arabischen sowie vorislamischen Dichtung, um die Grundregeln und das Vokabular optimal zu beherrschen.7

Ab ca. Mitte des achten Jahrhunderts kam es zu diversen Wandlungen innerhalb der Institution der Madrasa. Sie war weiterhin Bestandteil der Moschee, jedoch fortan eigenständig. Zu ihren autonomen Aufgaben zählten die Planung und ordnungsgemäße Durchführung des Unterrichts. Außerdem wurde der Lehrplan graduell erweitert. Neben Jurisprudenz, Tafsir und Rhetorik wurden erstmalig auch andere Wissenschaften wie Astrologie, Astronomie und Medizin behandelt.8 Im Lauf des zehnten Jahrhunderts konnte sich die Madrasa als eigenständige Bildungsinstitution etablieren. Es handelte sich dabei zunächst um kleinere Lehranstalten, die zumeist in der Nähe einer Moschee angesiedelt waren. Diese frühen Madrasas wurden normalerweise von einem Stifter (wāqif) oder von einem Gelehrten gegründet. Dadurch wurden sie stark vom jeweiligen Gelehrten beeinflusst und waren so stets auf seine juristische Lehrmeinung hin ausgerichtet.9

Ein überaus signifikanter Schritt in der Entwicklung der Madrasa ist mit dem Namen des Großwesirs Niẓām al-Mulk (gest. 1092) verknüpft.10 Er war der mächtige und einflussreiche Staatsminister der seldschukischen Sultane Alp-Arslan (gest. 1072) und Malik-Šāh I. (gest. 1092). Den Seldschuken gelang es – dank der ausgeklügelten politischen Taktiken Niẓām al-Mulks – die gesellschaftliche und politische Einheit der zunehmend zersplitternden islamischen Welt im Osten zeitweise wiederherzustellen.11 Die Städte Buchara und insbesondere Nischapur spielten zu jener Zeit eine Vorreiterrolle, letztere wird oft auch als die „eigentliche Wiege“ der Madrasa bezeichnet.12 Dies lag wahrscheinlich daran, dass Niẓām al-Mulk durch die Institution der Madrasa in seiner Heimatstadt Nischapur ausgesprochen positiv beeinflusst wurde und dementsprechend veranlasste, diese Bildungseinrichtung auch in Bagdad und anderen bedeutsamen Orten des Reiches einzuführen. Die größte und bedeutendste dieser Hochschulen wurde im Jahre 1067 in Bagdad erbaut und nach ihm als Niẓāmīya bezeichnet.13 Später wurde diese Bezeichnung für weitere Hochschulen dieser Art übernommen. Im Gegensatz zu den früheren Madrasas, welche von Privatpersonen gegründet und auf die Anliegen der Gelehrten zugeschnitten wurden, fiel die Niẓāmīya in die Hände der herrschenden politischen Machthaber.14

Eines der Hauptanliegen der Niẓāmīya bestand darin, angesichts des stets wachsenden schiitischen Einflusses durch eine synchronisierte sunnitische Initiative im Bereich der institutionellen Bildung gegenzusteuern.15 Zur Festigung des sunnitischen Islams wurden unter anderem berühmte Theologen wie Abū Ḥāmid al-Ġazzālī (gest. 1111) berufen, die ihre Gehälter von einer gemeinnützigen Stiftung (waqf) erhielten.16 Dem persönlichen Kontakt der Studenten zu den Lehrenden (mudarris) wurde eine zentrale Bedeutung beigemessen, da jene als Garant für die Korrektheit des erlernten Wissens angesehen wurden. Die Studenten mussten sich intensiv mit einem bestimmten Themenbereich auseinandersetzen und das erworbene Wissen regulär wiederholen, bevor sie zu einer neuen Thematik bzw. einem weiteren Studienfach übergingen. Respektvolles Benehmen im Unterricht sowie Bescheidenheit und Demut gehörten zu den beispielhaften Idealen in der Madrasa.17 Diese neue Form der religiösen Hochschule, welche den klassischen Islam maßgebend prägte und obendrein allen Muslimen zugänglich war, wurde überraschenderweise als Ergänzung zur Moschee bzw. zu Moscheeschulen gesehen. Unzählige Gelehrte und Studenten pendelten wiederholt zwischen diesen beiden Arten von Lehreinrichtungen.18

Die Gründung der Niẓāmīya ebnete mehr oder weniger den Weg für die Etablierung zahlreicher weiterer Madrasa-Typen in der ganzen islamischen Welt. Schon bald entstanden ähnliche Lehrinstitutionen in weiten Teilen Zentralasiens sowie im heutigen Afghanistan: Basra, Isfahan, Balch und Herat. Ab dem elften Jahrhundert wurden Madrasas von lokalen Herrscherfamilien in Anatolien, Ägypten, Palästina, Syrien und auf der arabischen Halbinsel gegründet.19 Neben Niẓām al-Mulk gilt auch der legendäre Sultan Ṣalāḥ ad-Dīn (gest. 1193) als bekanntester Gründer von Madrasas. Er ließ nach der Vertreibung der Kreuzfahrer im Jahre 1187 eine große Anzahl von Madrasas erbauen.20 Die Vermehrung der Madrasas ab dem zehnten und elften Jahrhundert führte zur fortwährenden Konkurrenz unter ihnen. Dies lag einerseits an den konkurrierenden Regenten, welche die Madrasas als Mittel zur Durchsetzung ihrer eigenen Grundhaltung nutzten. Andererseits war die entstehende Konkurrenz ein Ausdruck der Uneinigkeit zwischen den verschiedenen Rechtsschulen.21 

Madrasas in der Moderne

Ungeachtet der oben angeführten Auseinandersetzungen konnten sich Madrasas bis in die Neuzeit eine gewisse Autonomie bewahren. Die ersten Versuche, die Madrasas unter staatliche Kontrolle zu bringen, wurden im 19. Jahrhundert im Rahmen der Tanẓīmāt-Reformen im Osmanischen Reich unternommen, in deren Verlauf diverse Fremdsprachen sowie die Fächer Mathematik und Geographie in den Lehrplan integriert wurden.22

Die Mehrheit der islamischen Länder stand während des 19. und 20. Jahrhunderts unter dem politischen Einfluss der europäischen Kolonialmächte. Insbesondere im 20. Jahrhundert erlebten Madrasas eine Epoche voller Herausforderungen und Problematiken. Zum ersten Mal in ihrer Entwicklungsgeschichte bekamen Koranschulen starke Konkurrenz. Westliche Länder, wie beispielsweise Frankreich, etablierten im Zuge der Machtergreifung eigene Bildungssysteme, welche auf säkularen Wissenschaften fußten. Die Koranschulen konnten in diesem neuen Bildungswesen nicht bestehen. Obendrein wurden sie durch die Einschränkung der Waqf-Institutionen bzw. den graduellen Niedergang des Waqf-Wesens finanziell eingeschränkt.23 Es kam auch vereinzelt vor, dass klassische Madrasas vernachlässigt wurden, weil sie als Symbol der Rückständigkeit angesehen wurden. Nichtdestotrotz blieben die Koranschulen bzw. Madrasas beim Großteil der einheimischen Bevölkerung beliebt. Aufgrund ihrer eigenständigen Organisation und einflussreichen Stellung in der muslimischen Bevölkerungsschicht hatten diese religiösen Schulen im Widerstand gegen die herrschenden europäischen Besatzungsmächte eine bedeutsame Rolle inne. Dies erklärt auch, warum Kolonialmächte sehr bemüht waren, die Madrasas zu reformieren und unter ihre alleinige Kontrolle zu bringen.24

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte die Madrasa in einigen Gebieten der islamischen Hemisphäre, im Besonderen in Südasien, eine regelrechte Blütezeit.25 Neue Madrasas entstanden sowohl im Westen als auch in der muslimischen Welt. Sie wurden zu Orten einer Art Zusatzbildung, welche die westliche Ausbildung ergänzen soll, was bis heute noch andauert. Von großer Bedeutung ist die Entwicklung der Madrasa im Westen ab Ende des 20. Jahrhunderts. Die Madrasa wird von vielen Muslimen als ein fester Bestandteil ihrer muslimischen Identität angesehen. Sie wird sogar vor westlichen Bildungsinstitutionen begünstigt.26 Das erneute Aufkommen der Madrasas wird jedoch von vielen Seiten mit großer Skepsis betrachtet, da sie von westlichen Beobachtern als eine Bedrohung und Gefahr für den Rechtsstaat und die Demokratie wahrgenommen werden. Als einer der Gründe hierfür sei angemerkt, dass die orthodoxe, antiwestliche Taliban-Bewegung ihren Ursprung in einer Madrasa in der südafghanischen Provinz Kandahar hat.27

Fazit

Die Geschichte der Madrasa verdeutlicht, dass sie seit ihrer Entstehung eine überaus wichtige Rolle im Bildungswesen muslimischer Staaten spielte. Sie ist zudem eine der wenigen islamischen Institutionen, die seit dem Aufkommen des Islams erhalten geblieben ist. Im Laufe der Zeit entwickelte sie sich von einem kleinen Raum in einer Moschee zu einer unabhängigen Einrichtung, welche die Wissensvermittlung in der muslimischen Welt über Jahrhunderte normativ geprägt hat.28 Während Rechtsschulen über ihr eigenes Umfeld entscheiden und dadurch ihre Unabhängigkeit sichern konnten, entstand zwischen Koranschulen und Madrasas eine Wechselwirkung. Bemerkenswert ist auch, dass Madrasas in ideologischen Fragen miteinander konkurrieren.29 Kritiker werfen dem Wesen der Madrasa vor, dogmatisches Denken und Intoleranz zu verbreiten. Befürworter der Madrasas wehren sich vehement gegen derart negativ konnotierte Vorwürfe. Sie heben hervor, dass das eigentliche Ziel einer Madrasa darin bestehe, Religionsgelehrte (ʿulamāʾ) auszubilden, welche die religiösen Texte des Islams auslegen und interpretieren. In Südasien existieren vermehrt Madrasas, deren Großteil der Lehrpläne Studienfächer wie Physik und Mathematik beinhaltet.30

1 Vgl. Sebastian Günther: »Nur Wissen, das durch Lehre lebendig wird, sichert den Eingang ins Paradies. Die Madrasa als höhere Bildungseinrichtung im mittelalterlichen Islam«, in: Peter Gemeinhardt/Ilinca Tanaseanu-Döbler (Hg.): Das Paradies ist ein Hörsaal für die Seelen, Tübingen: Mohr Siebeck Verlag 2018, S. 237-270.

2 Vgl. Michael Celler: Der Koran für Nichtmuslime, Frankfurt am Main: Verlag Hans Jürgen Maurer, S. 330.

3 Duden.com: Medrese, https://www.duden.de/rechtschreibung/Medrese, abgerufen am 11.11.2021.

4 Vgl. S. Günther 2018, S. 248.

5 Vgl. Mouez Khalfaoui: »Medrese: Die Geschichte der Wissensvermittlung in der islamisch geprägten Welt und darüber hinaus«, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 108 (2014), S. 449-464.

6 J. Pedersen/G. Makdisi/Munibur Rahman/R. Hillenbrand, „Madrasa”, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition, Edited by: P. Bearman, Th. Bianquis, C. E. Bosworth, E. van Donzel, W. P. Heinrichs.

7 Ebd.

8 Vgl. S. Günther 2018, S. 247.

9 Vgl. ebd., S. 248.

10 Vgl. ebd., S. 250.

11 Vgl. ebd.

12 Vgl. ebd., S. 248.

13 Vgl. ebd., S. 251.

14 M. Khalfaoui 2014, S. 452.

15 Vgl. S. Günther 2018, S. 254.

16 Vgl. M. Khalfaoui 2014, S. 452f.

17 Vgl. S. Günther 2018, S. 260.

18 Vgl. ebd., S. 251.

19 Vgl. ebd., S. 262.

20 Ebd.

21 Vgl. M. Khalfaoui 2014, S. 452.

22 Vgl. ebd.

23 Vgl. ebd., S. 453.

24 Vgl. ebd., S. 454.

25 Vgl. ebd., S. 453.

26 Ebd.

27 Vgl. Reinhard Baumgarten: Was Taliban, IS und Al-Kaida trennt, 2021, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/taliban-alkaida-is-101.html, abgerufen am 01.11.2021.

28 S. Günther 2018, S. 241.

29 Vgl. M. Khalfaoui 2014, S. 453.

30 Vgl. ebd.

Gemeinhardt, Peter/Tanaseanu-Döbler, Ilinca (Hg.): „Das Paradies ist ein Hörsaal für die Seelen“. Institutionen religiöser Bildung in historischer Perspektive, Tübingen: Mohr Siebeck Verlag 2018.

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