Al-Idrīsī, seine Weltkarte und Rogers Buch. Ein muslimischer Gelehrter am christlichen Königshof Rogers II. in Palermo
Die Menschheit forscht seit jeher nach dem Aussehen der Welt und damit verbunden ist die uralte Kulturtechnik des Kartierens.1 Über die räumliche hinaus bieten Karten immer auch eine ideelle Orientierung und spiegeln die jeweils herrschende Weltsicht einer Gesellschaft. Als historische Dokumente bilden sie politische, kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Ordnungen ab oder konstruieren diese erst. Eine exakte, objektive Abbildung der Welt war nie und ist bis heute nicht möglich.2 In diesem Zusammenhang spielen die Orientierung einer Karte (ob sie also, entgegen unserer eurozentrischen Gewohnheit, anstatt nach Norden nach Süden oder Osten ausgerichtet ist) sowie der Ausschnitt (was wird dargestellt, was weggelassen) und die Zentralität (der eigene Machtbereich liegt im Kartenzentrum) eine Rolle.3
Karten wohnt stets eine bestimmte Intention inne. Die effektive Wirkung einer Weltkarte kann sich von der intendierten unterscheiden, wie etwa bei Gerhard Mercators berühmter Weltkarte von 1569. Als Hilfsmittel für die Navigation auf See erstellt, wurde sie später zur Darstellung europäischer Überlegenheit benutzt.4 Karten können einen historischen Wandel dokumentieren, aber auch zu dessen "mächtigen Agenten"5 werden. Die simplifizierenden und emotionalisierenden Karten, die im 20. Jahrhundert zu Propagandazwecken erstellt wurden,6 dienten "letztendlich zur Begründung von Eroberungskriegen, ethnischen Säuberungen und Genoziden"7. Neben (macht- und eroberungs-)politischen Zwecken können weitere Beweggründe für die Erstellung von Karten bestehen.8 Neues Erfahrungswissen abzubilden, wie zur Zeit der europäischen Entdeckungen, kann ebenso ein Motiv sein wie die Idee, einen Wandel im Bewusstsein der Menschheit anzustoßen.9 Ein Beispiel hierfür ist die im Jahr 1973 präsentierte flächentreue Weltkarte von Arno Peters (gest. 2002).10 Dessen Anspruch war es, mithilfe dieser Karte "eine politische Grundsatzdiskussion über das Verhältnis der Ersten zur Dritten Welt"11 auszulösen und in weiterer Folge den Anstoß zu einer gerechteren Weltordnung zu geben.12 Seine zwar flächentreue, nicht aber formtreue Projektion der Welt erntete heftige Kritik13 wie auch Lob.14
Die Schwierigkeit, die gekrümmte Erdoberfläche als ebene Fläche darzustellen, beschäftigt die Gelehrten schon lange. Die Theorie der Kugelgestalt der Erde wird bereits im vierten Jahrhundert vor Christus mithilfe von Naturbeobachtungen und mathematisch-astronomischen Berechnungen begründet (so in der Meteorologica von Aristoteles, gest. 322 v. Chr.). Zentrale Fragen der griechischen Geographie sind jene nach Form und Ausdehnung der Erde, der Land- und Wassermassen sowie danach, welche Teile der Erde bewohnbar seien. Zwar sind keine antiken griechischen Karten im Original erhalten, dennoch hatten sie große Bedeutung für die weitere Entwicklung der Geographie und Kartographie, wie hinsichtlich der Unterteilung der damals bekannten Welt (der sog. Ökumene) in die Kontinente Afrika, Asien und Europa. Auch die Vorstellung von Klimazonen sowie das aristotelische Konzept eines erdumspannenden Windsystems hatten weitreichenden Einfluss bis in die frühe Neuzeit.15
Eine nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung der europäischen, arabischen und weltweiten Kartographie ging von Claudius Ptolemäus (gest. um 168 n. Chr.) aus, insbesondere von seinen Werken Almagest und Geographia. Die von Ptolemäus entwickelten Gitternetzentwürfe ermöglichten das mathematisch berechnete Eintragen von Orten auf Längen- und Breitengraden und dadurch ein "relativ formtreues Bild der Erdoberfläche."16 Ptolemäische Schriften wurden bereits seit dem achten Jahrhundert von den Arabern rezipiert. Im 13. Jahrhundert in den Westen gelangt, bildeten sie ab dem 15. Jahrhundert dann die wichtigste Grundlage für die Werke berühmter Geographen wie Waldseemüller, Mercator u. a.17.
Als Quelle diente Ptolemäus auch dem muslimischen Gelehrten und Kartographen aš-Šarīf al-Idrīsī. Abū ʿAbd Allāh Muḥammad al-Idrīsī (lat. Dreses, gest. 1166) schuf am sizilianischen Königshof Rogers II. (gest. 1154) in dessen Auftrag "eine der gelungensten Beschreibungen der bewohnten Welt"18 seit Ptolemäus, die sich durch eine große Bandbreite detaillierter Informationen auszeichnet.19 Er vereinigte darin das griechische, das römische und das arabische geographische Wissen der vorausgehenden drei Jahrhunderte mit aktuellen Erfahrungsberichten von eigens beauftragten Gesandten und Zeichnern sowie mit al-Idrīsīs eigenen, persönlichen Reisen entsprungenen Kenntnissen.20 Das Interesse Rogers II., ein derart umfangreiches und zeitaufwändiges Werk in Auftrag zu geben, scheint nicht verwaltungstechnischen oder politisch-militärischen Motiven geschuldet zu sein als vielmehr dessen persönlichem Wunsch nach Mehrung geographisch-topographischen Wissens sowie seiner Repräsentation als weisem Herrscher.21 In der Einleitung al-Idrīsīs "werden die Weisheit, die stete und kritische Wahrheitssuche [...] des Königs zum Ausdruck gebracht. Er verkörpert die Idealvorstellung eines Fürsten, der nach Wissen strebt, um gerecht regieren zu können."22
Bemerkenswert ist der Name dieses Werks: nuzhatu ʾl-muštāq fī-ʾḫtirāqi ʾl-āfāq ("Das Vergnügen dessen, der sich nach der Durchquerung der Länder sehnt")23 bekannt geworden unter dem Namen kitāb ruǧār (Das Buch Rogers).24 Es sollte Rogers Wunsch zufolge Länder und Landschaften und deren klimatische Lage beschreiben25 "sowie eine Schilderung der Völker, ihrer Sitten und Bräuche, ihrer äußeren Erscheinung, ihrer Kleidung und ihrer Sprache beinhalten."26 Dieses Werk war die ausführliche Ergänzung zu einer Planisphäre27 aus purem Silber mit einem Gewicht von etwa 150 kg, auf der die von al-Idrīsī in jahrelanger, akribischer Arbeit erstellte, kreisrunde Weltkarte eingraviert wurde.28 Die Planisphäre soll bei Unruhen im Jahr 1166 zerstört worden sein.29
Das Buch Rogers blieb nur in Form von zehn Abschriften erhalten, deren älteste aus dem Jahr 1300 stammt.30 Es enthält neben dem arabischen Text 70 rechteckige, gesüdete Einzelkarten, die zusammengesetzt eine das gesamte bekannte Gebiet der Erde darstellende Weltkarte ergeben.31 Mit diesen Sektionalkarten folgt al-Idrīsī der traditionellen arabisch-islamischen Kartographie (insbesondere der sog. Balkhi-Schule), die sich jedoch auf die Darstellung der islamisierten Länder beschränkte.32 Er hingegen bietet eine "scheinbar vollständige Erfassung" der Welt und eine "neuartige Weltdeutung".33 Das Buch Rogers beschreibt die physische Welt in naturalistischer Weise, es ist trotz der auch enthaltenen Wunderbeschreibungen keine "religiöse Geographie [...], die sowohl für die christlichen mappae mundi der Zeit, auf denen Jerusalem als göttliches Zentrum der Welt dargestellt ist, als auch für die mekkazentrischen Karten der Balkhi-Schule charakteristisch ist."34
Al-Idrīsī teilte die Welt wie Ptolemäus in sieben Klimazonen (vom Äquator in Richtung Norden bis Skandinavien und Sibirien), zusätzlich nahm er noch eine weitere Unterteilung in zehn Abschnitte in west-östlicher Richtung vor.35 Neben diesen Teilkarten enthalten sechs der Abschriften von Rogers Buch eine runde, physische Weltkarte, die nach neueren Erkenntnissen (seit 2002) aber nicht mehr al-Idrīsī zugeschrieben werden kann (wie es in der Literatur teilweise weiterhin geschieht), da sie bereits im auf das elfte Jahrhundert datierten Buch der Kuriositäten gefunden wurde. Sie wurde offenbar später von Kopisten eingefügt. Al-Idrīsī selbst bezieht sich im Text nicht auf diese Karte,36 wohingegen er sonst seine Quellen offen darlegt, etwa Werke von Ptolemäus, Paulus Orosius, Ibn Ḫurdāḏbah und Ibn Ḥauqal.37
Die Besonderheit von al-Idrīsīs geographischem Werk besteht darin, verfügbares Wissen nicht einfach zu reproduzieren, sondern geographisches und soziales Weltwissen in einem Ausmaß zu verknüpfen, das über jenes zeitgenössischer Dokumente hinausgeht.38 Unter islamischen Gelehrten soll er teilweise als Glaubensabtrünniger gegolten haben, nur einige beziehen sich in ihren Werken auf ihn, wie etwa Ibn Ḫaldūn (gest. 1406).39 Das Ausmaß der Rezeption al-Idrīsīs in Europa wird von Forschern unterschiedlich eingeschätzt.40 Der Historiker Jerry Brotton schreibt über al-Idrīsī: "Im 13. Jahrhundert hatten sich beide Seiten von al-Idrisi abgewandt; sie verlangten nach Karten, die ihre jeweiligen theologischen Anschauungen eindeutig und nachhaltig untermauerten. Seinen Innovationen zum Trotz wussten weder Christen noch Moslems den Wert von al-Idrisis Werk zu würdigen, und die Visualisierungen religiöser Doktrinen triumphierten über zuverlässige geographische Darstellungen."41 Im 14. Jahrhundert hingegen, mit dem Aufkommen der Portulane und Seefahrerkarten, stieg der Bedarf an genaueren kartographischen Angaben, die al-Idrīsīs Karten im Gegensatz zu den mittelalterlichen mappae mundi bieten konnten.42 Das Buch Rogers wurde als erstes säkulares arabisches Buch in Europa gedruckt (Rom, 1592), eine erste lateinische Übersetzung stammt aus Paris (1619).43 S. P. Scott (gest. 1929) zufolge haben Geographen 300 Jahre hindurch al-Idrīsīs Karten übernommen.44 Zuletzt noch relevant hinsichtlich der Geographie des inneren Afrika, galt al-Idrīsīs Werk schließlich ab Ende des 18. Jahrhunderts als veraltet.45
Im späten 20. Jahrhundert befasste sich die Fachwelt wieder vermehrt mit frühislamischer Geographie und in diesem Kontext auch mit al-Idrīsī.46 Über sein Leben ist nicht überaus viel bekannt. Er soll um 1100 als Mitglied der Berber-Dynastie der Hammudiden geboren sein, entweder in Ceuta (heute eine spanische Exklave in Marokko) oder aber in Sizilien bzw. Süditalien.47 Letzteres würde das geringe Ausmaß erklären, in dem al-Idrīsī in andalusischen und maghrebinischen Werken seiner Zeitgenossen zitiert wird.48 Nach seiner Ausbildung in religiösen wie profanen Wissenschaften in Córdoba unternahm er ausgedehnte Reisen und trat dann in den Dienst des Königs Roger II. in Sizilien, wo er 1154 das Buch Rogers vollendete49 - nach über zehnjähriger Arbeit und kurz vor dem Tod des Königs.50 Al-Idrīsī befasste sich außer mit Geographie auch mit Botanik und Arzneipflanzen und verfasste u. a. ein Werk, in dem er neue Heilpflanzen in mehreren Sprachen benennt, u.a. auf Lateinisch, Griechisch, Arabisch, Berberisch und Persisch.51 Al-Idrīsīs Todesjahr wird mit 1166 bzw. 1180 angegeben.52 Heute trägt ein von der Clark University entwickeltes Geoinformationssystem ihm zu Ehren seinen Namen: IDRISI GIS53.