Die Abrogation im Koran
Einleitung
Der Koran ist zweifelsfrei die wichtigste Quelle der MuslimInnen. Er ist allerdings sehr komplex, polysem1 und obendrein nicht selbsterklärend. Um den Korantext dementsprechend besser verstehen und ihn für einen breiten AdressatInnenkreis zugänglich machen zu können, müssen seine Aussagen von fachkundigen Gelehrten evaluiert, interpretiert und erläutert werden. Aus diesem Grund bildete sich bereits ab dem 8. Jahrhundert eine Vielzahl von Disziplinen und Methoden, die zusammenfassend als Koranwissenschaften (ʿulūm al-qurʾān) bezeichnet werden.2 Eine dieser Methoden ist die Abrogation (nasḫ), die sich graduell als ein zentrales Instrument zum Verstehen des Korans etablierte.
Abrogation im Islam
Die sogenannte Abrogation wird in der Koranexegese (tafsīr) sowie in der islamischen Normenlehre (fiqh) als ein hermeneutisches Werkzeug zur Deutung von spezifischen Stellen des Korans oder auch der prophetischen Überlieferung (hadīth) verwendet.3 Hierunter versteht man im Allgemeinen die Veränderung, Verwerfung, Aufhebung oder das Ersetzen einer normativen Bestimmung durch eine andere. Die Abrogation kommt immer dann zur Anwendung, wenn die Gelehrten mit einem scheinbaren Widerspruch innerhalb des Korans und ferner des Korans mit der Sunna konfrontiert sind. Um diese widersprüchlichen Textstellen miteinander in Einklang zu bringen, werden alle früheren Verse zu einer bestimmten Thematik durch den chronologisch zuletzt offenbarten Vers zum gleichen Thema aufgehoben, also abrogiert.4 In der Abrogationslehre wird die abrogierende Bestimmung als nāsiḫ (abrogierend) bezeichnet, die abrogierte Bestimmung als mansūḫ (abrogiert).5 Für diese Methode ist dementsprechend die (chronologische) Datierung der Suren und Verse unabdingbar.
Die Grundlage für die Legitimation der Abrogationslehre wird von den Gelehrten aus dem Koran selbst gewonnen, denn dieser weist an mehreren Stellen darauf hin, dass die Abrogation früherer Verkündigungen auf Gottes Allmacht zurückgeführt werden kann. Das heißt, bereits sanktionierte Bestimmungen werden unter Berufung auf die Autorität Gottes im Nachhinein verändert, wobei ihnen teilweise sogar widersprochen wird.6 Den wohl wichtigsten Beweis hierfür finden wir in Koran 2:106, in der Sure al-Baqara: „Wenn wir einen Vers (aus dem Wortlaut der Offenbarung) tilgen oder in Vergessenheit geraten lassen, bringen wir (dafür) einen besseren oder einen, der ihm gleich ist. Weißt du denn nicht, daß Gott zu allem die Macht hat?“7
Demnach besteht der eigentliche Zweck der Abrogation darin, bestimmte Verse durch ähnliche oder gar bessere zu ersetzen.8 Dieser bedeutende Koranvers impliziert aber zugleich auch, dass bei ambivalenten oder unstimmigen Normen jeweils die jüngste die letztgültige ist.
Demgegenüber erwähnt der Koran weitere Aspekte, die mit der göttlichen Herkunft der Abrogation zusammenhängen; so auch die Tatsache, dass Gott allein seine eigenen Verkündungen auflöst, aufhebt bzw. abändert oder auch, dass Gott den Gesandten die ihm offenbarten Verse schlichtweg vergessen lässt:9 „Wir werden dich (Offenbarungstexte) vortragen lassen, und du wirst nicht (s davon) vergessen, außer was Gott will! Er weiß, was verlautbart, und was geheimgehalten wird (w. was verlautbart wird, und was verborgen ist).“10
Die zumeist unerwarteten Normenänderungen stießen anfangs vor allem im Umfeld Muhammads auf Missbilligung. Dies veranlasste einige Menschen, Zweifel an der Echtheit und am göttlichen Ursprung dieser offenbarten Verse zu äußern: „Und wenn wir einen Vers anstelle eines anderen eintauschen und Gott weiß (ja) am besten, was er (als Offenbarung) herabsendet, sagen sie (d. h. die Ungläubigen): Es ist ja eine (reine) Erfindung von dir (w. Du heckst ja nur (etwas) aus). (Das ist nicht wahr.) Aber die meisten von ihnen (d. h. den Menschen) wissen nicht Bescheid.“11
Im Koran werden jedoch solche Bedenken explizit adressiert und kategorisch abgelehnt, indem ausdrücklich auf das bessere Wissen Gottes um seine eigene Offenbarung (87:7), auf seine freie Verfügungsgewalt über die Offenbarung und auf den Ausdruck seines souveränen Willens hingewiesen wird (17:86).12 Im Gegensatz dazu besitzt der Gesandte selbst keine Vollmacht zur Abänderung der göttlichen Botschaft, die ihm von Gott zur Verlautbarung anvertraut wurde (10:15).13
Neben dem Koran nahmen die Gelehrten die Sunna, Darlegungen der Offenbarungsanlässe sowie ihre eigene Logik zu Hilfe, um die Sinnhaftigkeit der Methode der Abrogation zu untermauern.14 Dabei gab es einige Regelungen zu befolgen. Die Methode der Abrogation kann nur auf Normen (aḥkām), nicht aber auf Glaubensinhalte angewandt werden.15 Des Weiteren müssen die Überlieferungen über die abrogierenden und abrogierten Sachverhalte auf vertrauenswürdige TradentInnen wie dem Gesandten selbst oder seine GefährtInnen zurückverfolgt werden können. Zudem muss klar erkennbar sein, was genau als nāsiḫ und mansūḫ gilt.16 Generell wurden je nach beteiligter Textart vier Kategorisierungen der Abrogation zugelassen: Koran abrogiert Koran, Koran abrogiert Sunna, Sunna abrogiert Sunna und Sunna abrogiert Koran.17 Die letzte Kategorie der Abrogation ist allerdings seit der Frühzeit des Islams sehr umstritten und wurde vom Rechtsgelehrten aš-Šāfiʿī (gest. 820) abgelehnt. In Bezug auf den Koran werden laut as-Suyūtī (gest. 1505) drei Formen der Abrogation unterschieden: 1. Verse, deren rechtliche Gültigkeit (ḥukm) abrogiert wurde, jedoch nicht ihre Rezitation (nasḫ al-ḥukm dūna t-tilāwa), 2. Verse, deren Rezitation (tilāwa) abrogiert wurde, nicht aber die rechtliche Gültigkeit (nasḫ at-tilāwa dūna al-ḥukm) und 3. Verse, deren rechtliche Gültigkeit sowie Rezitation abrogiert wurden (nasḫ al-ḥukm wa-t-tilāwa).18 Die hier als Erstes genannte Form der Abrogation im Koran ist das zentrale Thema der islamischen Abrogationsliteratur. Im Übrigen entstanden die ersten eigenständigen Werke zur Abrogationslehre bereits im frühen 8. Jahrhundert. Die umfassenderen Niederschriften zur Abrogationsliteratur stammen vom schafiʿītischen Theologen ʿAbd al-Qāhir al-Baġdādī (gest. 1037), dem mālikitischen Rechtsgelehrten Ibn al-ʿArabī al-Maʿāfirī (gest. 1148) und dem hanbalitischen Universalgelehrten Ibn al-Ǧauzī (gest. 1201).19 Bezüglich der genauen Anzahl der Verse, die abrogiert wurden, herrscht kein allgemeingültiger Konsens unter den Gelehrten; die Zahl schwankt zwischen sechs und über 280 Versen.20
Beispiele für Abrogation
Die Methode der Abrogation ist insbesondere in Bezug auf die Verwerfung von vorhandenen Regeln und Bräuchen von großem Nutzen. Sie beruht auf der Tatsache, dass Veränderungen in der Gesetzgebung graduell eingeführt wurden.21 Auf diese Art und Weise war es für die damaligen Gläubigen einfacher, sich bewusst an den neu festgelegten Richtlinien zu orientieren. Das wohl bekannteste Beispiel für Abrogation ist die stufenweise Einführung des Alkoholverbots im Koran. Im frühesten offenbarten Vers zu dieser Thematik heißt es: „Man fragt dich nach dem Wein und dem Losspiel. Sag: »In ihnen liegt eine schwere Sünde. Und dabei sind sie für die Menschen (auch manchmal) von Nutzen. Die Sünde, die in ihnen liegt, ist aber größer als ihr Nutzen.« […]“22
Zuerst wurden hier nur die Vor- und Nachteile des Alkoholkonsums erwähnt, wobei das Negative überwiegt. Im zeitlich darauffolgend offenbarten Vers wird ebenfalls noch kein Verbot von Alkohol angeführt. Lediglich das Erscheinen zum Gebet im Rauschzustand wird untersagt: „Ihr Gläubigen! Kommt nicht betrunken zum Gebet, ohne vorher (wieder zu euch gekommen zu sein und) zu wissen, was ihr sagt! […]“23 Im jüngsten offenbarten Vers zu diesem Thema heißt es dann aber: „Ihr Gläubigen! Wein, das Losspiel, Opfersteine und Lospfeile sind (ein wahrer) Greuel und des Satans Werk. Meidet es! Vielleicht wird es euch (dann) wohl ergehen.“24
Aus diesem Vers kann nun deutlich ein absolutes Alkoholverbot abgeleitet werden, wobei gleichzeitig alle vorherigen Verse, die den Genuss von Alkohol einschränken oder dulden, abrogiert werden.25
Ein weitverbreitetes, jedoch äußerst komplexes Beispiel für Abrogation ist die Aufhebung aller Toleranz-Verse hinsichtlich des Umgangs mit Nicht-MuslimInnen durch den sogenannten Schwertvers (9:5), der zum Krieg gegen alle Nicht-MuslimInnen aufrufe. Allerdings wurde die Abrogation dieser Verse bereits seinerzeit von klassischen Korankommentatoren wie aṭ-Ṭabarī (gest. 839) und später auch Ibn Kaṯīr (1373) kritisiert und als unbegründet beurteilt.26 Auch vom Großteil der zeitgenössischen Gelehrten wird diese Abrogation aufgrund zahlreicher, unhaltbarer Argumente bemängelt und abgelehnt.27 In diesem Zusammenhang wird zum Beispiel Koran 8:61 erwähnt, wo auf einen gerechten und respektvollen Umgang zwischen MuslimInnen und Nicht-MuslimInnen hingewirkt werden soll: „Und wenn sie (d. h. die Feinde) sich dem Frieden zuneigen, dann neige (auch du) dich ihm zu (und laß vom Kampf ab)! Und vertrau auf Gott! Er ist der, der (alles) hört und weiß.“28
Schluss
Das Prinzip der Abrogation wurde seit jeher immer wieder heftig diskutiert. Einige zeitgenössische islamische Gelehrte und DenkerInnen verneinen, dass es überhaupt eine Aufhebung koranischer Verse gibt.29 Somit lehnen sie die Abrogationslehre vollständig ab, weil der Koran oftmals betont, dass die Worte Gottes unabänderlich sind: „Und verlies, was dir von der Schrift deines Herrn (als Offenbarung) eingegeben worden ist! Es gibt niemand, der seine Worte abändern (w. (gegen etwas anderes) austauschen) könnte. […]“ Nach der Ansicht Einiger, unter ihnen der Rechtsgelehrte Muhammad ʿAbduh (gest. 1905) und der Philosoph Mohammed Abed al-Jabri (gest. 2010), führe die Methode der Abrogation dazu, dass Textstellen aufgehoben werden, unabhängig davon, ob hierfür ein eindeutiger Beweis bzw. Beleg im Koran oder in der Sunna existiere.30 Ein weiterer bekannter Kritiker der Abrogationsmethode war Muhammad Asad (gest. 1992). In seiner kommentierten Koranübersetzung Die Botschaft des Koran schreibt er, es gäbe „keine einzige zuverlässige Überlieferung dergestalt, daß der Prophet jemals einen Vers des Qur‘an als »abrogiert« erklärt hätte.“31
Infolgedessen versuchen diese kritischen Stimmen in ihrer Auslegung, die in der offiziellen Koranausgabe vorhandenen, widersprüchlichen Verse in Übereinstimmung miteinander zu bringen. Das bedeutet, sie interpretieren diese im Kontext der vor- und nachgehenden Verse und können im Zuge dessen zu Ergebnissen kommen.32 Nichtsdestotrotz wird die Abrogationslehre von der muslimischen Mehrheit für legitim erklärt, auch wenn bezüglich der verschiedenen Kategorien, Formen und abrogierten und abrogierenden Textstellen zwischen den einzelnen Gelehrten nicht immer Einstimmigkeit herrscht.