Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit im Koran?

Artikel 04.06.2018 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem Thema der Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit im Koran. Nach einer allgemeinen Einführung wird auf zwei Aspekte näher eingegangen: die Ambivalenz der beiden koranischen Begriffe „muḥkam“ und „mutašābih“ sowie das Problem der Interpretationshoheit (göttlich oder menschlich), zu der dieser Vers Stellung bezieht. Zum Schluss wird noch auf die Relevanz des Verses für den heutigen Diskurs aufmerksam gemacht.


„Er ist es, der dir von droben diese göttliche Schrift erteilt hat, Botschaften enthaltend, die klar in und durch sich selbst sind, - und diese sind die Essenz der göttlichen Schrift – wie auch andere, die allegorisch sind. Nun gehen jene, deren Herzen zum Abweichen von der Wahrheit geneigt sind, demjenigen Teil der göttlichen Schrift nach, der in allegorischer Weise ausgedrückt worden ist, suchen aus (was bestimmt) Verwirrung (erzeugt) und suchen seine endgültige Bedeutung (auf willkürliche Weise zu erlangen); aber keiner außer Gott kennt seine endgültige Bedeutung. Darum sagen jene, die tief im Wissen verwurzelt sind: »Wir glauben daran; das Ganze (der göttlichen Schrift) ist von unserem Erhalter – wiewohl sich dies keiner zu Herzen nimmt außer jenen, die mit Einsicht versehen sind.“1

Die Frage nach der Eindeutigkeit des Korans beschäftigt seit jeher muslimische und nichtmuslimische Koranexegeten. Auch wenn oft angenommen wird, dass alle koranischen Aussagen des Koran natürlich eindeutig2 seien, so ist der genannte Vers 3:7 Ausgangspunkt für zahlreiche Debatten. Georges Tamer, Inhaber des Lehrstuhls für Orientalische Philologie und Islamwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, schreibt sogar, dass er „zu den schwierigsten Versen des Korans“3 gehöre. Dieser Vers ist insofern von hoher Brisanz, denn je nach Auslegung, hängt auch der Interpretationsspielraum des Korans von ihm ab.4 Um die Debatte rund um diesen Vers aufzuzeigen wird im Folgenden auf zwei Aspekte näher eingegangen: die Ambivalenz der beiden koranischen Begriffe muḥkam und mutašābih sowie das Problem der Interpretationshoheit (göttlich oder menschlich), zu der dieser Vers Stellung bezieht. Unter den muslimischen Gelehrten wird in Bezug auf diesen Vers auch der Begriff umm al-kitāb, das Asad mit „die Essenz der göttlichen Schrift“ übersetzt, diskutiert. In diesem Beitrag wird aber darauf nicht näher eingegangen.

Die koranischen Begriffe muḥkam und mutašābih

Im arabischen Original des vorliegenden Verses ist die Rede von muḥkam, das von der Wurzel uḥkima („zwischen zwei Dingen unterscheiden“)5 abgeleitet und ins Deutsche oft mit „eindeutig“ übertragen wird. Der Begriff mutašābih hingegen wird von der Wurzel ištabaha („zweifelhaft sein“)6 abgeleitet und mit „verschieden“7, „mehrdeutig“8 oder „allegorisch“9 übersetzt.

Da die Begriffe aber weder vom Koran selbst noch vom Propheten näher erklärt wurden, herrschen Meinungsunterschiede über dessen Bedeutung.10 So gibt aṭ-Ṭabarī (gest. 923), einer der früheren Koranexegeten, in seinem Korankommentar al-Ǧāmiʿ al-bayān `an ta`wīl āy al-qur’ān (Zusammenfassung der Erläuterungen zur Interpretation der Koranverse) fünf unterschiedliche Positionen an11:

  • Ibn ʿAbbās (gest. 688) und Muqātil (gest. 767) verstehen die muḥkamāt-Verse als die abrogierenden und die mutašābihāt als die abrogierten Verse;
  • Muǧāhid b. Ǧabr (gest. 722) versteht die muḥkamāt-Verse als diejenigen Verse, die sich mit den erlaubten und verbotenen Dingen beschäftigen und die mutašābihāt als sich ähnelnde Verse;
  • Muḥammad b. Ǧa’far b. Zubayr sagt, dass muḥkamāt-Verse eindeutig, während mutašābihāt-Verse mehrdeutig sind;
  • Ibn Zayd versteht die muḥkamāt-Verse als diejenigen, die frühere Prophetengeschichten beinhalten, die sowohl Gottes Botschaft bestätigen als auch detaillierte Informationen wiedergeben. Auch mutašābihāt-Verse handeln von Prophetengeschichten, jedoch sind sie in ihrer Bedeutung nicht immer klar und können trotz des gleichen Wortlauts unterschiedliche Bedeutungen haben;
  • Ǧābir b. ʿAbdullāh vertritt die Meinung, dass die muḥkamāt-Verse nur von Gelehrten und die mutašābihāt-Verse nur von Gott verstanden werden.

Die Diskussionen rund um die Bedeutung dieser Begriffe gingen auch bei späteren Gelehrten des Mittelalters weiter. Eine ausführliche Abhandlung finden wir im Werk von as-Suyūṭī (gest. 1505) mit dem Titel al-Itqān fī ʿulūm al-qurʼān (Enzyklopädie der Koranwissenschaften), die Sahiron Syamsuddin auf Deutsch wiedergibt12. Folgende Meinungen finden sich bei Suyuti

  • Muḥkam ist etwas, dessen gemeinte Bedeutung (murād) entweder durch die Klarheit oder durch die Auslegung (ta’wīl) zu erfahren ist. Mutaṣābih ist etwas, das nur Gott weiß, wie der Jüngste Tag, die Entstehung des daǧǧāl (Antichrist) und die geheimnisvollen Buchstaben am Anfang bestimmter Suren.“
  • Muḥkām ist, was eine rational einsehbare Bedeutung (ma’qūl al-ma’nā) hat. Mutašābih ist das Gegenteil, z. B. die Zahl der Gebete und die Besonderheit des Fastens im Ramaḍān. (Dies ist das, was al-Māwardī sagt).“
  • Muḥkam ist, was unabhängig von anderem ist. Mutašābih ist, was abhängig von anderem ist, in dem Sinne, dass dessen Verständnis auf anderes zurückzuführen ist.“
  • Muḥkam enthält, was verpflichtend ist (farā‘iḍ), Verheißung (wa’d) und Drohung (wa’īd). Mutašābih betrifft die Erzählung von früheren Völkern und Propheten sowie Gleichnisse (amṯāl).“

Stefan Wild hat die vormodernen Interpretationen dieser beiden Begriffe in drei Gruppen unterteilt: rechtliche Interpretation (legal interpretation), rhetorische Auslegung (rhetorical interpretation) und anti-exegetische Auslegung (anti-exegetical interpretation).13 Alle diese drei Zugänge, die Wild identifiziert, lassen sich in den obengenannten Positionen verschiedener Gelehrter erkennen.

Zu den neueren Ansichten zählen die von Muḥammad Šaḥrūr, der neben den muḥkamāt, die er als normative Verse, und mutašābihāt, die er als informative Verse bezeichnet, eine dritte Verskategorie hinzufügt, die er tafṣīl al-kitāb nennt. Als Grundlage dafür lehnt er sich an den Vers 10:37 an. Die Verse der dritten Kategorie sollen laut Šahrūr über die beiden anderen Verskategorien der Heiligen Schrift näher informieren.14 Diese Ansicht wird jedoch vielfach kritisiert. Auch Muhammad Asad und Angelika Neuwirth haben sich mit dieser Problematik beschäftigt. Letztere liest den Vers im historischen Kontext und bezeichnet diesen als „eine Innovation, die für das Selbstverständnis der Gemeinde kaum zu überschätzen ist.“15 Weiters schreibt Neuwirth: „Was sich hier vollzieht, ist eine vorher nicht gewagte Öffnung des Schriftdiskurses, nach deren Anlaß und Sitz im Leben der Gemeinde in der Forschung bisher nicht gefragt worden ist.“16

Und so kommt angesichts der Vielfalt der Meinungen letztendlich auch Stefan Wild zu dem Schluss, „dass es sehr schwierig sei, von einer einzigen wahren Interpretation der Begriffe zu sprechen und zu klären, welche Verse mit muḥkamāt und mutašābihāt wirklich gemeint seien.“17

Jene, „die tief im Wissen verwurzelt“ sind – al-rāsikhūna fī l-ʿilm

Neben der Ambivalenz der beiden oben erläuterten koranischen Begriffe ist mit diesem Vers auch die Interpretationshoheit der mehrdeutigen koranischen Aussagen verbunden. Liest man nämlich diesen Teil al-rāsikhūna fī l-ʿilm als Subjekt eines neuen Satzes, dann wird der Punkt nach dem arabischen Wort für „Gott“ gesetzt und es ergibt sich, dass nur Gott alleine die Deutung kennt. Setzt man aber den Punkt nach dem arabischen Wort für „Wissen“ so liest sich die Passage „niemand als Gott kennt seine Auslegung und die Festgegründeten im Wissen“.18 Auf diesem Wege steht „auch den Menschen der Zugang zur Interpretation offen“19, so Angelika Neuwirth. Beide Lesarten werden von den traditionellen Koranwissenschaften anerkannt und sind möglich. Dieses ergibt sich aus der Tatsache, dass die handschriftlichen arabischen Quellen des Korantextes ohne Punktierung sind.20 Unter konservativen Kreisen ist die erste Lesart verbreitet, jedoch ist in der Geschichte durchwegs auch die zweite Lesart präsent und schon Averroës (gest. 1198) argumentierte mit dieser.21

Schluss

Die Diskussion um dieses koranwissenschaftliche Thema ist sehr umfangreich und kann natürlich in diesem begrenzten Rahmen nicht zur Gänze erläutert werden. Wichtig ist jedoch auf die Ambivalenz innerhalb des Korans hinzuweisen. Es ist bemerkenswert, dass im Koran selbst auf diese Tatsache hingewiesen wird. Daher erscheinen Versuche, die eigene Interpretation des Korans als die einzig Wahre darzustellen, von vorneherein im Widerspruch mit dem Koran zu sein. Denn wie in den Ausführungen deutlich geworden ist, gibt es verschiedene Gründe, die es keinem Menschen erlauben, die Interpretationshoheit für sich zu beanspruchen. Wenn sogar der Vers selbst, der auf die Ambivalenz mancher koranischer Aussagen hindeutet, unterschiedlich interpretiert wird, und keine zuverlässigen Quellen vorhanden sind, die uns darüber Auskunft geben, welche Verse als mehrdeutig und welche als eindeutig einzustufen sind, dann erscheint es sinnvoll sich unterschiedlichen Interpretationen zu öffnen und dieser gottgewollten Vielfalt mit Wertschätzung anzunähern.  Genau das soll dieser Beitrag bewirken.

1 Muhammad Asad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Ostfildern: Patmos Verlag 2015, 3:7.

2 Vgl. dazu auch Koran 12:1, 11:1, 26:2, 43:2.

3 Georges Tamer: Den Koran wörtlich nehmen? - So einfach ist das nicht. Deutschlandfunk 2015, www.deutschlandfunk.de/sure-3-vers-7-den-koran-woertlich-nehmen-so-einfach-ist-das.2395.de.html, abgerufen am 05.02.2018.

4 Vgl. Dina e. Omari: Koran. Einführung in die Koranwissenschaften (= Studienreihe "Islamische Theologie", Band 5), Freiburg i. Br.: Kalam 2016, S. 114.

5 Ahmad v. Denffer: Ulum al-Qur'an. Einführung in die Koranwissenschaften 2005, S. 96.

6 Ebd.

7 Nach der Übersetzung von Ahmadiyya und M. A. Rassoul.

8 Nach der Übersetzung von Rudi Paret.

9 Nach der Übersetzung von Muhammad Asad.

10 Vgl. Sahiron Syamsuddin: Die Koranhermeneutik Muḥammad Šaḥrūrs und ihre Beurteilung aus der Sicht muslimischer Autoren. Eine kritische Untersuchung (= Mitteilungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der islamischen Welt, Band 28), Würzburg: Ergon-Verl. 2009, S. 79.

11 Vgl. Sahiron Syamsuddin: »Muḥkam and Mutashābih. An Analytical Study of al-Ṭabarī's and al-Zamakhsharī's Interpretations of Q. 3:7«, in: Journal of Qur'anic Studies 1 (1999), S. 63-79, hier S. 63-64.

12 S. Syamsuddin, S. 80-81.

13 Vgl. ebd., S. 81-82.

14 Vgl. ebd., S. 90-93.

15 Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2013, S. 531.

16 Ebd.

17 S. Syamsuddin, S. 82.

18 Vgl. A. Neuwirth, S. 530, G. Tamer, Leah Kinberg: »Muḥkamāt and Mutashābihāt (Koran 3/7). Implication of a Koranic Pair of Terms in Medieval Exegesis«, in: Arabica 35 (1988), S. 143-172, hier S. 144.

19 A. Neuwirth, S. 530.

20 Vgl. G. Tamer.

21 Vgl. ebd.

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