Fazlur Rahman und der Islam im Kontext der Moderne

Artikel 20.04.2021 Redaktionsteam

Dieser Beitrag befasst sich mit dem pakistanischen Gelehrten Fazlur Rahman (gest. 1988), dessen Ideen und methodische Ansätze zum Verstehen und Deuten der islamischen Schriftquellen weltweite Resonanz erfuhren und seit einigen Jahren zunehmend beachtet werden.


Biografie

Fazlur Rahman (eigentlich Fazl ur-Rahman Malik) gilt als überaus bedeutender Reformer des islamischen Denkens im 20. Jahrhundert. Er wurde am 21. September 1919 in Hazara im heutigen Pakistan, damals noch Indien, geboren. Sein Vater, ein Religionsgelehrter, unterwies ihn in den klassischen islamischen Disziplinen Exegese (tafsīr), Prophetische Überlieferung (Hadith), Jurisprudenz (fiqh), Theologie (kalām) und Philosophie (falsafa). In Lahore absolvierte er ein Studium der arabischen Literatur. Anschließend ging er nach Oxford, wo er mit einer Arbeit über Ibn Sina (Avicenna) promovierte.1

Von 1950 – 1958 lehrte Fazlur Rahman islamische Philosophie an der Durham University in Großbritannien, beschäftigte sich aber bald mit islamischer Theologie und muslimischen Denkern, nachdem er bei den Philosophen Gott als „bloß intellektuelles Konstrukt ohne Kraft und Leidenschaft“2 vorgefunden hatte.

Nach drei Jahren als Assistenzprofessor an der McGill Universität in Kanada, an welcher ein wichtiges Institut für Islamwissenschaft beheimatet war, holte ihn der spätere pakistanische Präsident, General Ayyub Khan, als Professor und dann auch Direktor des Islamic Research Institute (IRI) nach Pakistan zurück. Dieses Institut bot den Wirtschafts- und Sozialreformen von Khans Regierung den wissenschaftlichen Boden durch die Veröffentlichung zahlreicher Schriften, denen ein modernes Verständnis der islamischen Quellen zugrunde lag. Zudem beriet das IRI die Regierung in konkreten religiösen Fragestellungen, wie bezüglich Zinsverbot, Zakat und Familienrecht. In Pakistan, das 1947 gegründet worden war und 1956 die weltweit erste islamische Republik ausgerufen hatte, war sowohl ein traditionalistischer Islam weit verbreitet, als auch ein modernes Islamverständnis der säkularen Elite präsent. Für Khans Ziel, das Land unter Berücksichtigung der Traditionalisten zu modernisieren, wozu unter anderem auch die Stärkung der Rolle der Frau gehörte, schien Fazlur Rahman als traditionell ausgebildeter islamischer Gelehrter mit langjähriger Erfahrung im Westen die geeignete Person zu sein.3

Für Khans politische Gegner jedoch war Rahman als Vertreter einer liberalen Sichtweise das Symbol für „die schlimmsten Aspekte des Modernisierungsprojekts: die religiöse und soziale Reform.“4 Zwischen den Fronten eines politischen Machtkampfs war Rahman schließlich sogar mit Morddrohungen konfrontiert aufgrund des Vorwurfs, den Koran als nicht-göttlich zu bezeichnen, woraufhin er seinen Posten niederlegte.

Gemeinsam mit seiner Familie verließ er Pakistan und lehrte an den Universitäten in Los Angeles und ab 1969 in Chicago. Er war Berater für das US-amerikanische Außenministerium und das Weiße Haus und reiste mehrmals nach Indonesien, um dort auf Wunsch der Regierung ein islamwissenschaftliches Hochschulstudium zu konzipieren. Bis zu seinem Tod im Jahr 1988 lebte Rahman in den USA.5

Thesen

Laut einem seiner Schüler, Earle H. Waugh, war Rahman ein „unnachgiebiger muslimischer Gelehrter, der Selbstkritik über alles stellte. Er wäre sicher keine Kompromisse in den essentiellen Bereichen des Glaubens eingegangen, […], aber er wandte nichts gegen die Behauptung ein, dass es andere Wege gebe für einen verbindlichen Islam als jene, die durch die islamische Geschichte für gültig erklärt worden waren.“6

Rahman war überzeugt, dass jede Reform des Islams mit Bildung beginnen müsse, wobei er für eine kritische Perspektive auf die islamische Tradition stand.7 Er wollte Vernunft und Offenbarung miteinander in Einklang bringen und zeigen, wie „der Islam als ein kulturelles, religiöses, politisches und ethisches Erbe“8 in den Kontext der modernen Welt passt.9 Technische und wissenschaftliche Errungenschaften nutzen zu können ohne negative Auswirkungen auf die Kultur und Werte des Islams;10 „die Seele des Islams nicht in den Anpassungen zu verlieren“11, welche die Moderne auch von den islamischen Gesellschaften verlangt; „die Gegenwart mit der Vergangenheit zu vereinen, und dabei eine notwendige Kontinuität aufrechtzuerhalten“12; dies war es, womit Fazlur Rahman sich intensiv auseinandersetzte.13

Er sah den Grund für den Niedergang des islamischen Denkens vor allem im Fehlen eines ganzheitlich-umfassenden und dynamischen Ansatzes und einer tragfähigen, ganzheitlichen Methode. Zudem zielte die in Medresen im islamischen Mittelalter organisierte Bildung nicht auf Befähigung zu Reflexion, kreativem Denken und selbständigem Erforschen ab. Vielmehr sei die Gelehrtentätigkeit auf Reproduktion bestehender Ideen fokussiert gewesen.

Werke

Mit dem Ziel, „Tradition und Erneuerung einem vor allem muslimischen Publikum zu erklären“14, schrieb Rahman über vielerlei Themen, angefangen von der Reform islamischer Bildung über jene des islamischen Rechts hin zu Koranhermeneutik und Hadithkritik sowie islamischer Ethik.15

Sein Buch mit dem einfachen Titel „Islam“ war erstmals 1967 erschienen und 1979 sowie 2016 neu aufgelegt worden. Viele der am IRI verfassten Schriften wurden in diesem Werk veröffentlicht. Rahman wurde aufgrund dieses Buchs heftig angegriffen. Der pakistanische Gelehrte Abū l-Aʿlā Maudūdī (gest. 1979) warf Rahman vor, islamische Glaubensgrundsätze zu untergraben und die Rolle der Gelehrten zu mindern.16

Von großem Einfluss sollte Rahmans Werk „Major Themes of the Qur´an“ werden, das 1980 veröffentlicht wurde. Darin zeigt sich „die für den Autor so charakteristische Objektivität und ausgewogene Betrachtungsweise, die belebt wird durch seine eindrucksvolle Art konstruktiver Theologie, die mutig und doch verantwortlich durchdacht, moralisch anspruchsvoll und zugleich geistlich erhebend für jeden denkenden Leser ist, welcher Religion auch immer er angehören mag.“17

Bedeutend in diesem Buch ist beispielsweise der Begriff taqwā, der häufig mit Gottesfurcht übersetzt wird. Eine (bessere) Alternative wäre Gottesbewusstsein. Die Wortwurzel bedeutet (be)schützen vor etwas. Somit meint taqwā, sich durch das Bewusstsein der eigenen Handlungen vor negativen Konsequenzen derselben zu schützen. Die Einsicht, dass jede Handlung Folgen nach sich zieht, ist mit dem Verantwortungsbewusstsein des Individuums verbunden. Die Furcht liegt also eher in der Furcht vor den eigenen Handlungen und deren Konsequenzen, als in der Furcht vor Gott. Taqwā meint also auch, nach guten Taten zu streben und voll und ganz mit den moralischen Zielen Gottes übereinzustimmen, weil dieser mithilfe des Korans den Menschen zu ethischem und moralischem Handeln anleitet. Folglich ist eine starke taqwā gleichzeitig auch eine Form von Gottesdienst (ʿibāda).18

Wirkung

Rahmans Denken verbreitete sich besonders in der Türkei und in Indonesien, woher viele seiner Doktoranden in Chicago stammten. Seine Hauptwerke wurden auch ins Türkische und Indonesische übersetzt. Weniger rezipiert wurde Rahman hingegen in der arabischen Welt und im Iran.

Insbesondere auf die in den 1990er Jahren an der Theologischen Fakultät der Universität Ankara entstandene Ankaraner Schule hatte er weitreichenden Einfluss. Mittels der Vertreter dieser Schule, die heute die Entwicklung der Islamischen Theologie in Deutschland mitprägen, wie Ömer Özsoy in Frankfurt am Main, ist Rahmans Geist somit auch im deutschsprachigen Raum spürbar.

In den USA übernahmen beispielsweise Amina Wadud und Asma Barlas die Ansätze Fazlur Rahmans und entwickelten diese für eine geschlechtergerechte Koraninterpretation weiter.19

1 Vgl. Katajun Amirpur: Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte (= Beck'sche Reihe, Band 6075), München: Verlag C.H.Beck 2013, S. 91; Rachid Benzine: Islam und Moderne. Die neuen Denker, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2012, S. 111.

2 K. Amirpur 2013., S. 91.

3 Vgl. ebd., S. 91-93; R. Benzine 2012., S. 114; Nadeem F. Paracha: SMOKERS’ CORNER: THE RETURN OF FAZLUR RAHMAN - DAWN.COM 2018, www.dawn.com 2018, www.dawn.com/news/1408776 vom 08.02.2019.

4 K. Amirpur 2013., S. 93.

5 Vgl. ebd., S. 93f.; R. Benzine 2012., S. 116.

6 Earle H. Waugh 1999, zit. nach K. Amirpur 2013.

7 Vgl. ebd., S. 92.

8 Ebd., S. 97.

9 Vgl. ebd., S. 97.

10 Vgl. R. Benzine 2012., S. 117.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Vgl. ebd.

14 K. Amirpur 2013., S. 96.

15 Vgl. ebd., S. 96f.

16 Vgl. N. F. Paracha 2018.

17 Frederick M. Denny: »Fazlur Rahman (1919-1988) - Glaube auf den Grundfesten des Korans für die Welt von heute«, in: Petrus Bsteh/Brigitte Proksch (Hg.), Wegbereiter des interreligiösen Dialogs, Wien: Lit-Verlag 2012, S. 217-222, hier S. 221.

18 Vgl. ebd., S. 221f.

19 Vgl. K. Amirpur 2013., S. 94-96.

Amirpur, Katajun: Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte (= Beck'sche Reihe, Band 6075), München: Verlag C.H.Beck 2013.

Benzine, Rachid: Islam und Moderne. Die neuen Denker, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2012.

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