Muḥammad Abed al-Ǧābirī und die Kritik der arabischen Vernunft

Artikel 10.07.2018 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel befasst sich mit dem marokkanischen Philosophen Muḥammad Abed al-Ǧābirī (gest. 2010), der zu den bedeutendsten Kritikern der islamischen Moderne gehört. In seinem vierbändigen Hauptwerk Naqd al-ʿaql al-ʿarabī (Kritik der arabischen Vernunft) äußert er seine reformatorischen Gedanken zur Neubegründung des arabischen Rationalismus, welche vor allem an die Gedanken des rationalistischen muslimischen Philosophen Ibn Rušd bzw. Averroes (gest. 1198) angelehnt sind.


Kurzbiografie und die „Kritik der arabischen Vernunft“

Muḥammad Abed al-Ǧābirī ist im Jahr 1935 in der Stadt Figuig geboren, die sich im Südosten Marokkos befindet. Im Jahr 1967 schloss er sein Philosophiestudium an der Philosophischen Fakultät Mohammed V in Rabat ab und verfasste auch seine Dissertation. An der selbigen Universität erhielt er des Weiteren einen Lehrstuhl in Philosophie und lehrte dort etwa 31 Jahre lang bis zum Jahr 2002. Zuvor war er ebenfalls als Lehrer an Grundschulen tätig, was seine späteren Werke beeinflusst haben dürften. Al-Ǧābirī war bis 1981 auch im journalistischen Bereich tätig und schrieb eine Fülle von Zeitungsartikeln und Beiträgen für diverse Zeitungen, wobei er sich vor allem auf politische Themen fokussierte. Auch sein Hauptwerk "Kritik der arabischen Vernunft" befasst sich mit den politisch-gesellschaftlichen Umbrüchen der arabischen Welt. Die Beweggründe das vierbändige Werk zu verfassen, lagen unter anderem an den Auswirkungen des Sechstagekrieges zwischen Israel und den arabischen Ländern Ägypten, Jordanien und Syrien im Jahr 1967.1

Vor allem in den arabischen Ländern sorgte die "Kritik der arabischen Vernunft" für viel Aufmerksamkeit. Das Werk zielt darauf hin an die arabische Aufklärung des 12. Jahrhunderts anzuknüpfen, um den arabischen Rationalismus (allen voran unter Ibn Rušd) wieder aufblühen zu lassen. In Ibn Rušd sah al-Ǧābirī eine entscheidende Figur, die eine wichtige Geisteshaltung und ein maßgebliches Denken verkörperte, das im Laufe der Zeit verloren gegangen sei. Der Verlust dieser Geisteshaltung sei mitunter ein Grund dafür, weshalb die arabische Welt dem Westen hinterherhinke:2

"Die Europäer lebten ihrerseits die Geschichte, aus der wir herausgetreten waren, weil sie es verstanden, sich Averroes anzueignen und bis zum heutigen Tag das averroistische Moment zu leben."3

Im Mittelpunkt der "Kritik der arabischen Vernunft" steht mitunter die arabische Sprache, die durch die Offenbarung des Korans einen sakralen Charakter angenommen habe. Des Weiteren führt er aus, dass dies erhebliche Einflüsse auf die arabischsprachigen Gesellschaften habe, da jede Sprache nicht nur ein Mittel zum Denken sei, sondern diese auch präge. Aus diesem Grund spricht Ǧābirī von einer "arabischen" Vernunft und nicht von einer "islamischen" Vernunft, da dies den Anschein erwecken könne, er würde die Kritik an die islamische Religion richten, was nicht sein Ziel sei.4

Al-Ǧābirī nimmt bezüglich des Umgangs mit der Tradition im arabischen Raum eine sehr kritische Haltung ein und bemängelt dabei, dass die arabische Kultur davon geprägt sei sich unreflektiert und undifferenziert mit religiösen und traditionellen Texten auseinanderzusetzen. Das subjektive Empfinden eines Lesers/einer Leserin werde demnach außer Acht gelassen. Nicht das Subjekt (der Leser/die Leserin) stehe im Mittelpunkt der Auseiandersersetzung, sondern der zu lesende Text. Folglich müsse sich das Subjekt von seiner Tradition lösen, damit ein Fortschritt zustande kommen könne:5

"Warum bestehen wir aber bei der von uns vorgeschlagenen Lesart der Tradition so stark auf der Trennung zwischen Subjekt und Objekt? Weil der zeitgenössische arabische Leser durch seine Tradition eingeschränkt und durch seine Gegenwart erdrückt ist, was zunächst bedeutet, dass ihn die Tradition absorbiert, ihn der Unabhängigkeit und Freiheit beraubt. Seit seinem Eintritt in die Welt wird ihm unablässig die Tradition eingeimpft, in Form eines bestimmten Vokabulars und bestimmter Auffassungen, einer Sprache und eines Denkens; in Form von Fabeln, Legenden und imaginären Vorstellungen, von einer bestimmten Art des Verhältnisses zu den Dingen und einer Art des Denkens; in Form von Wissen und Wahrheiten. Er empfängt all dies ohne jegliche kritische Auseinandersetzung und ohne den geringsten kritischen Geist [...] Unter diesen Bedingungen ist das Denken eher ein Erinnerungsspiel. Vertieft sich der arabische Leser in die traditionellen Texte, so ist seine Lektüre erinnernd, keineswegs aber erforschend und nachdenkend."6 

Einige Kritiker al-Ǧābirīs werfen ihm aufgrund seines kritischen Tons eine eurozentrische Denkart vor.7 Allerdings muss an dieser Stelle betont werden, dass es auf keinen Fall sein Ziel war mit der arabischen Tradition zu brechen, sondern den Umgang mit der Tradition zu hinterfragen. Ein Fortschritt könne gar nicht dadurch zustande kommen, indem man versucht Entwicklungen von außen (in diesem Fall vom Westen) zu übernehmen und nachzuahmen. Viel mehr ginge es darum mit der eigenen Vergangenheit und Tradition adäquat umzugehen um daraus zeitgemäße Herangehensweisen zu schöpfen, was wiederum den modernen Weg darstelle:8

"Die Moderne, das ist vor allem Rationalität und Demokratie. Eine rationale und kritische Auseinandersetzung mit allen Aspekten unserer Existenz, von denen die Tradition eines der Elemente darstellt, die am stärksten in uns gegenwärtig und verwurzelt sind, ist der einzig wahre modernistische Weg."9

Al-Ǧābirī und der averroistische Rationalismus

Al-Ǧābirī teilt die islamische Philosophie in zwei Lager auf: die islamisch-östliche Philosophie, die vor allem durch Gelehrte wie Ibn Sīnā (lateinisch: Avicenna, gest. 1037) und al-Ghazālī (gest. 1111) geprägt wurde und die islamisch-westliche Philosophie, die sich aus den andalusischen Gelehrten ergibt, allen voran aus Ibn Rušd (lateinisch: Averroes), Ibn Ḥazm (gest. 1064) und aš-Šāṭibī (gest. 1388). Den östlichen Philosophen wirft er vor, die Philosophie mit der Religion vermischt zu haben, was zur Stagnation des Denkens geführt habe.10 Ibn Sīnā und al-Ghazālī hätten es nicht geschafft neue Philosophien zu entwickeln, was darauf beruhe, dass sie lediglich anstrebten, das Denken der alten Griechen mit dem Islam zu harmonisieren. Hierdurch konnten die Gedanken der genannten Gelehrten nie wirklich das ihrer griechischen Vorgänger überschreiten. Im islamischen Westen hingegen habe diese Durchmischung der Philosophie mit der Religion nicht stattgefunden.11 Hierdurch entwickelte sich laut al-Ǧābirī innovativer Einfallsreichtum der bis heute durch Ibn Ḥazms kritisches Denken, Ibn Rušds Rationalismus, aš-Šāṭibīs Grundlagenlehre und Ibn Ḫaldūns Historizität gekennzeichnet sei. Des Weiteren führt al-Ǧābirī aus, dass sich die Philosophie in al-Andalus (im Gegensatz zum Orient) unter völlig anderen Bedingungen entfalten konnte, da es in diesem Gebiet kein vor-islamisches Erbe gab:12 

"In Al-Andalus folgten die Dinge ihrem natürlichen Gang: Die Philosophie tauchte auf, nachdem sich die Gelehrten ein ganzes Jahrhundert lang mit dem Studium der Mathematik, der Astronomie und der Logik beschäftigt hatten, ohne sich je in die theologische Problematik der Versöhnung zwischen 'Vernunft' und 'Überlieferung' eingemischt zu habe, die im Zentrum des theoretischen Denkens im Orient stand. Die andalusischen Philosophen hatten also keinerlei Schwierigkeiten, sich von den kulturellen Hindernissen freizumachen, die die Philosophie im Orient von Anfang an behindert hatten, und von denen sie dermaßen abhängig geblieben war, dass sie schließlich mit ihr verschmolzen [...]."13

Abgesehen von der "Kritik der arabischen Vernunft" wird auch in anderen Arbeiten al-Ǧābirīs deutlich, dass er sich für das Wiederaufblühen des "averroistischen Denkens" stark gemacht hat. So verfasste er auch Monographien über Ibn Rušd und editierte seine Werke. Leider wurden nur sehr wenige Werke al-Ǧābirīs auf Deutsch übersetzt. Hierunter fällt auch die "Kritik der arabischen Vernunft". Nur der erste Band wurde bisher auf Deutsch übersetzt (siehe Literaturverzeichnis), wobei hier ebenfalls nicht aus dem arabischen Original übersetzt wurde, sondern aus der französischen Übersetzung. Es handelt sich also lediglich um eine Übersetzung der Übersetzung.14 Dabei schrieb der Philosoph mehr als 30 Monographien, die eine Fülle von Themengebieten behandeln.

Al-Ǧābirī starb am 3. Mai 2010 in Casablanca. Der Erhalt seines Geistes wird von einigen seiner Schüler, die seinen Unterricht an der Philosophischen Fakultät Mohammed V besuchten, und seinem ältesten Sohn Isaam al-Ǧābirī gewährleistet. Sein intellektuelles Erbe wird in den arabischen Ländern auch nach seinem Ableben gepflegt.15

1 Abdelkader al Ghouz: Vernunft und Kanon in der zeitgenössischen arabisch-islamischen Philosophie. Zugl. überarb. Fassung von: Bonn, Univ., Diss., 2015, Würzburg 2015, S. 93

2 Muḥammad Abed al-Ǧābirī/Reginald Grünenberg/Sonja Hegasy/Ahmed Mahfoud/Marc Geoffroy: Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung, Berlin: Perlen Verlag 2009, 9-11

3 Ebd., S. 17

4 A. al Ghouz, S. 114-121

5 M. al-Ǧābirī/R. Grünenberg/S. Hegasy/A. Mahfoud/M. Geoffroy, S. 17

6 Ebd., S. 18-19

7 Hamid R. Yousefi: Einführung in die islamische Philosophie. Eine Geschichte des Denkens von den Anfängen bis zur Gegenwart (= utb-studi-e-book, Band 4082), Paderborn, Stuttgart: Fink; UTB 2014, S. 205

8 M. al-Ǧābirī/R. Grünenberg/S. Hegasy/A. Mahfoud/M. Geoffroy, S. 55-63

9 Ebd., S. 62-63

10 Ebd., S. 131-135

11 H. R. Yousefi, S. 206-208

12 A. al Ghouz, S. 189

13 M. al-Ǧābirī/R. Grünenberg/S. Hegasy/A. Mahfoud/M. Geoffroy, S. 151

14 A. al Ghouz, S. 100

15 M. al-Ǧābirī/R. Grünenberg/S. Hegasy/A. Mahfoud/M. Geoffroy, S. 109

Al-Ǧābirī, Muḥammad/Grünenberg, Reginald/Hegasy, Sonja/Mahfoud, Ahmed/Geoffroy, Marc: Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung, Berlin: Perlen Verlag 2009.

Al Ghouz, Abdelkader: Vernunft und Kanon in der zeitgenössischen arabisch-islamischen Philosophie. Zugl. überarb. Fassung von: Bonn, Univ., Diss., 2015, Würzburg 2015.

Yousefi, Hamid R.: Einführung in die islamische Philosophie. Eine Geschichte des Denkens von den Anfängen bis zur Gegenwart (= utb-studi-e-book, Band 4082), Paderborn, Stuttgart: Fink; UTB 2014.

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