Mohamed Talbi und sein Islamverständnis
Mohamed Talbi (1921 - 2017) war ein tunesischer Historiker, kritischer Intellektueller und ebenso einflussreicher wie unkonventioneller und umstrittener islamischer Denker. Lange Zeit mischte sich der profunde Kenner der Geschichte des Mittelalters im Maghreb und des Arabischen nicht in die Politik ein, doch äußerte er sich in seinen späteren Lebensjahren - so etwa auch in seinem Buch Penseur libre en Islam (2002) - zunehmend kritisch über das Regime des tunesischen Präsidenten Ben Ali, der im Jahr 1999 mit 99,44 Prozent der Wählerstimmen im Amt bestätigt wurde. Angesichts massiver menschenrechtlicher Einschränkungen sprach Talbi von Tunesien als einem "Gulag des Geistes", denn "das Verbot des freien Denkens und der freien Meinungsäußerung ist die schlimmste Folter für den Geist."1 Einige seiner Werke (wie Iyal Allah, Familie Gottes - der Titel bezieht sich auf eine Überlieferung des Propheten Muhammad über die gesamte Menschheit als Familie Gottes) sowie die Herausgabe einer Zeitschrift, die sich einer zeitgenössischen Islaminterpretation widmen sollte, wurden verboten. Als Konsequenz zog sich der einstige Mitbegründer der Universität Tunis 1993 aus der letzten seiner offiziellen Funktionen (als Präsident des Comité culturel national) zurück. In der Folge widmete er sein ganzes Denken und Streben der Freiheit des Menschen, der Freiheit des Denkens im Allgemeinen und der Erneuerung des muslimischen Denkens im Speziellen.2
Zentral ist für Mohamed Talbi stets die Freiheit eines jeden Individuums, und jede Auslegung mit dem Ziel, sich diese Freiheit einzuverleiben, steht im Widerspruch zum selbstverantworteten Glauben. Daraus resultierend lehnt Talbi die Scharia als menschliches und daher nicht verpflichtendes Werk ab und fordert ein Überdenken derselben.3 In seinem Buch L'Islam n'est pas voilé, il est culte. Rénovation de la pensée musulmane (2009) betont er diesbezüglich einmal mehr die Bedeutung des Korans als Gottes Wort, unterstützt durch die authentische Sunna. Wohingegen die Scharia in einer unflexiblen Art und Weise das soziale und individuelle Leben bis ins kleinste Detail, wie etwa des Barttragens, regiere und alles, was mit Freude und (insbesondere weiblicher) Schönheit verbunden ist, geringschätze.4 Talbi erinnert daran, dass die Scharia - als Begriff während der frühislamischen Zeit inexistent - erst im zweiten Jahrhundert nach der Hidschra von Menschenhand geschaffen wurde, wohingegen die Muslime bis zu dieser Zeit sehr gut ohne islamisches Recht gelebt hätten. Dieses diente letztlich "vor allem gierigen Despoten dazu, zu herrschen und legal töten zu können".5
In einem Interview (2014) hält Talbi fest:
"Ich glaube einzig an den Koran, nicht an die Scharia. Ich halte nur jene Hadithe für wahr, die mit dem Koran übereinstimmen. [...] Ansonsten sage ich, dass nur der Koran verpflichtet. 'Kein Zwang in der Religion.' Der Koran ist das einzige heilige Buch, das diesen Satz formuliert, so klar, so laizistisch. Jeder praktiziert die Religion, die er will. Der Staat hat sich nicht in religiöse Angelegenheiten einzumischen. Er hat eine einzige Funktion: eine Atmosphäre des Friedens für alle zu schaffen."6
In diesem Sinne bezeichnet sich Talbi als "musulman coranique", als "koranischen Muslim", der sich "den Koran als das göttliche Wort aus freien Stücken zu eigen gemacht" hat.
"Der Koran ist für den, der ihn in sich aufnimmt, kein Zwang, er ist vielmehr Teil seines Bewusstseins, seines Gewissens. Genau so fühle ich mich. Ich bin vollkommen frei gegenüber Gott, der die Freiheit ist. Und Gott ist in mir im Sinne des Wortes, im Sinn des Korans, der sagt, dass in jedem Menschen ein Teil des Göttlichen ist."7
Talbis Äußerungen in Bezug auf die Scharia müssen natürlich einen Aufschrei seitens traditioneller, sunnitisch-orthodoxer Gelehrter provozieren. Veränderungen werden nach Talbis Überzeugung aber ohnehin nicht seitens der Gelehrtenschaft ausgehen, sondern vielmehr von der Umma, der Nation oder dem Volk, die, "sobald aufgeklärt genug, ihr Schicksal in die Hand nehmen wird."8 Kritik und Anfeindungen bis hin zu Tötungsaufrufen seitens islamistischer Bewegungen aufgrund seiner angeblichen Apostasie hielten ihn, der nie ins Exil ging, nicht vom freien Denken und Schreiben ab.9 Im Folgenden sollen einige weitere Standpunkte Talbis zitiert werden.
Talbis Ablehnung der Scharia ist eng mit dem Bestreben verbunden, den "Islam von der dogmatischen Interpretation" zu befreien, "die darauf beharrt, dass sie die endgültige Wahrheit besitze," und somit auch jeden Dialog verhindere.10 Er plädiert für eine historische und dynamische Lesart des Korans, denn: "Gott spricht nicht nur zu den Toten, sondern auch zu den Lebenden. Und deshalb muss ich sein Wort mit meiner jetzigen Mentalität und im Hinblick auf meine jetzigen Lebensumstände verstehen. Ich schlage eine dynamische Lektüre des Korans und keine starre oder konservative Lektüre vor, die das Wort Gottes tötet."11
Aus der Freiheit des Individuums folgt auch die Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben sowie die Religion frei zu wählen. Talbi schreibt: "Gott hat den Menschen als wahrhaft und tragisch freies Wesen geschaffen. Was Er will, ist eine willentliche und ergebene Antwort auf seinen Ruf, die in voller Einsicht und in aller Freiheit gegeben ist; das eben ist der Sinn des arabischen Wortes islam."12
Und weiter: "Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß die Religionsfreiheit kein Akt der Menschenliebe und keine Geste der Toleranz gegenüber irrenden Personen ist. Sie ist fundamentales Recht eines jeden Menschen. Es für mich selbst einzufordern heißt eo ipso, bereit zu sein, es auch für den anderen zu fordern."13
Talbi sieht die Gleichheit und Würde aller Menschen und die Universalität der Menschenrechte im koranischen Menschenbild verankert, wenn er festhält:
"Wir können also davon ausgehen, daß auf der Ebene des Geistes alle Menschen wahrhaft gleich sind, wie immer auch ihre physischen und geistigen Fähigkeiten und Begabungen sein mögen. Sie haben denselben Atem Gottes in sich, kraft dessen sie sich zu Gott erheben und seinen Anruf in Freiheit beantworten können. Sie besitzen also die gleiche Würde und die gleiche Heiligkeit, und diese Würde und Heiligkeit verleihen ihnen uneingeschränkt in gleicher Weise dasselbe Recht auf Selbst-Bestimmung hier auf Erden und im Jenseits. Aus der Sicht des Koran lässt sich also sagen, daß der Ursprung der Menschenrechte in dem liegt, was alle Menschen von Natur aus, und d.h. aufgrund des Planes Gottes und seiner Schöpfung sind."14
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Talbi wollte sich nicht als Reformer des Islams verstanden wissen, sondern einfach als freier Denker im Islam, der seine Ansichten niemandem aufzwingt.15 "Die Scharia neu zu überdenken"16, ist seiner Ansicht nach heute eine zentrale Aufgabe für die Musliminnen und Muslime, wobei es diesbezüglich einerseits große Widerstände gibt, andererseits auch keine islamische Instanz, keine oberste Autorität, die solche, für die Gesamtheit der Muslime gültigen Änderungen bestimmen könnte. Denn der Islam kennt keinen Klerus (abgesehen vom schiitischen Islam), Talbi bezeichnet den Islam als "grundlegend laizistische Religion".17
Die Anwendung der Scharia und die Islamisierung der Gesellschaft sind hingegen die Ziele sowohl von Islamisten als auch traditionsorientierter Reformer. Der Unterschied besteht darin, dass erstere zu radikalen Mitteln bis hin zur Gewalt greifen, und sich letztere auf die Erziehung stützen. Deren Devise, zu den Quellen und somit zu einem angeblich ursprünglichen, reinen Islam zurückzukehren, lässt Talbi nur im Sinn einer Rückkehr zum Koran als Quelle gelten.18 Er spricht sich jedoch entschieden gegen den Wunsch aus, "die Gesellschaft in einem angeblich idealen Zustand zu konservieren, dem Zustand von Medina im Jahr 622".19
Vielmehr plädiert Talbi für die Teilhabe an einer pluralistischen, globalen Weltkultur, in der die Religionen ihren Beitrag leisten müssen und können. Alle Schriften der Religionen - ob als göttliches Offenbarungswerk oder Menschenwerk angesehen - verdienten als ein Erbe der Menschheit Respekt.20 Stand bisher die Abgrenzung der kollektiven Identitäten von den jeweils anderen im Mittelpunkt und die Vereinnahmung Gottes durch einzelne Religionen für sich selbst, könne die Zukunft "nur noch im Zeichen von Kontaktnahme und gegenseitigem Anteilgeben und -nehmen stehen" mit der Aussicht auf eine "befreiende Weltdimensionierung aller Kulturen", die alle, sei es mit oder ohne Gott, Teil der "großen Menschheitsfamilie" seien.21
Den muslimischen Denkern rät Talbi "anstatt über die Vorzüge dessen zu weinen, was vergangen ist, aus ihren kleinen Schneckenhäusern wertloser Rechtsstreitereien herauszutreten, um sich in stärkerem Maße auf alle die unterschiedlichen Glaubensformen und -überzeugungen einzulassen - in einer geistigen Auseinandersetzung, die von jetzt an Gebot der Stunde bleiben wird in einer Welt, die unwiderruflich und unausweichlich eine plurale Welt geworden ist."22
Dieses Zitat Talbis aus dem Jahr 1999 hat auch heute, fast zwanzig Jahre später, nicht an Gültigkeit verloren. Positive Entwicklungen sind leider oft erst in Ansätzen spürbar und dringend nötig, hier muss noch viel mehr geschehen. Eine wichtige Rolle werden dabei die sich gerade etablierenden Islamischen Theologien an deutschen und österreichischen Universitäten spielen.