Ibn Rušd - Maßgebliche Abhandlung (Faṣl al-maqāl)

Artikel 27.05.2021 Redaktionsteam

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dem Werk „Maßgebliche Abhandlung“ (Faṣl al-maqāl) des rationalistischen Philosophen und muslimischen Gelehrten Ibn Rušd (gest. 1198 n. Chr.), der im Westen vor allem unter dem Namen Averroes bekannt ist. Die deutsche Übersetzung des Werkes stammt von Frank Griffel (2010, hrsg. im Verlag der Weltreligionen) und bildet die Quelle des vorliegenden Artikels. Griffels Werk beinhaltet weiters einen Kommentar, der unter anderem den Entstehungskontext des Werkes verdeutlicht.


Das Ziel des Textes Faṣl al-maqāl

Ibn Rušd macht gleich zu Beginn seiner Schrift deutlich, dass diese sich mit der Frage beschäftigt, ob das Religionsgesetz des Islams das Studium der Philosophie (falsafa) und der Wissenschaft der Logik erlaubt, missbilligt oder sogar dazu aufruft, sich mit dem Studium dieser Disziplin zu beschäftigen, womit die Auseinandersetzung eine Empfehlung bzw. Pflicht darstellen würde.1

Als großer Philosoph und Aristoteles-Kommentator scheint es selbstverständlich, dass Ibn Rušd auch ein Befürworter der Philosophie ist. Er führt aus, dass Philosophieren im Nachdenken über die existierenden Dinge und in der Untersuchung derselben bestehe, aber auch im Nachdenken darüber, wie diese Dinge entstanden sind. Eine innige Auseinandersetzung mit der Existenz der erschaffenen Dinge könne somit zu einer zunehmenden Erkenntnis des Gestalters (also Gottes) führen. Folglich habe das Religionsgesetz schon immer zum Philosophieren ermutigt und eine klare Empfehlung für das Nachdenken über die existierenden Dinge ausgesprochen.2 Als Beleg dafür, dass das Religionsgesetz zum Philosophieren ermahne, nennt Ibn Rušd eine Reihe von Versen aus dem Koran, wie beispielsweise Koran 3:1913:

(Leute) die im Stehen, Sitzen oder Liegen Gottes gedenken und über die Erschaffung von Himmel und Erde nachsinnen (und sagen): ‚Herr! Du hast das (alles) nicht umsonst geschaffen. Gepriesen seist du! (Wie könntest du so etwas tun!) Bewahre uns vor der Strafe des Höllenfeuers! (…)‘

Das Studium der Werke früherer Generationen (hierbei sind vor allem die Werke der griechischen Antike gemeint) führt laut Ibn Rušd zu demselben Tor, zu dem auch die Offenbarung die Menschen hinführen möchte, nämlich zu Gott. Ein Verbot dieser Werke wäre seines Erachtens nach ein erheblicher Fehler, denn das Abbringen vom Studium dieser Bücher halte den Menschen von Wissen fern und dies wiederum habe zur Folge, sich von Gott zu entfernen.5

Die Konsequenzen des „Für-wahr-Haltens“ bzw. des „Nicht-für-wahr-Haltens“

Ibn Rušd führt aus, dass derjenige entschuldigt sei, der einen Tatbestand für wahr gehalten habe, welcher sich jedoch in späterer Folge als falsch herausstellen sollte. Der Lohn für die Anstrengung sei ihm bei Gott dennoch gewährt, weil die Absicht der Person zähle, die ja von der Richtigkeit des Tatbestandes ausgegangen sei. Das Für-wahr-Halten und das Nicht-für-wahr-Halten seien keine frei zu wählenden Entscheidungen. Wenn jedoch jemand etwas für wahr halte und sich dieser Tatbestand tatsächlich als wahr herausstellen sollte, so werde dieser Mensch von Gott im doppeltem Maße belohnt.6 Hierbei nennt Ibn Rušd auch das Beispiel des Richters anhand einer Aussage des Propheten Muhammad:

Deshalb hat der Prophet gesagt: »Wenn der Richter sich bemüht, ein Urteil zu finden und das Richtige trifft, dann wird er zwei Belohnungen bekommen [nämlich eine im Diesseits und eine im Jenseits], wenn er das Falsche trifft, so wird er [immer noch] eine Belohnung bekommen.« Und welcher Richter ist wichtiger als jener, der über die Existenz richtet, daß es nämlich so ist [z.B. anfangslos] oder nicht so [d.h. dann in der Zeit geschaffen]. Diese Richter sind die Gelehrten, die Gott ausgewählt hat [die Offenbarung] allegorisch zu interpretieren, und ein solcher Fehler [in der Interpretation] der Offenbarung, der dem Gelehrten vergeben wird, tritt auf, wenn die Gelehrten jene schwerverständlichen Dinge untersuchen, die zu untersuchen ihnen das Religionsgesetz aufgetragen hat. Wenn allerdings ein Fehler unter der Gruppe von Menschen auftritt, die nicht Gelehrte sind, dann handelt es sich um absolute Sünde, ganz gleich, ob der Fehler in theoretischen Fragen oder in praktischen Fragen liegt. (…). Wer darüber urteilen will, was [an menschlichen Handlungen] erlaubt und verboten ist, muß die Grundvoraussetzungen für die freie religiöse Urteilsfindung erfüllen, und diese sind zwei Voraussetzungen: (1) nämlich Kenntnisse über die Rechtsquellen zu haben und (2) Kenntnisse darüber zu haben, wie man Entscheidungen mittels Analogieurteilen von diesen Rechtsquellen ableitet.7

Aus diesem Zitat geht auch hervor, dass es sich um einen Gelehrten des jeweiligen Themenfeldes handeln muss, damit überhaupt erst eine Konklusion erfolgen kann. Eine Auseinandersetzung mit den Materialien, Quellen und Instrumentarien des jeweiligen Fachgebietes ist die Voraussetzung für ein adäquates Urteil. In einem solchen Fall wäre auch ein Fehlurteil entschuldigt. Wer sich jedoch ohne jegliche Kenntnisse und ohne innige Auseinandersetzung mit dem Themenbereich anmaßt ein Urteil zu fällen, ist laut Ibn Rušd ohne jeden Zweifel ein Sünder. Obgleich sich Ibn Rušd also für die Vereinigung von Islam und Philosophie ausspricht, betont er vehement, dass es nur einer gewissen Elite an Gelehrten obliege, sich mit den Werken der Philosophen auseinanderzusetzen. Für jemanden, der nicht über die notwendige Geisteskraft verfüge, die jene Werke voraussetzen, sei die Beschäftigung mit den Lehren eines Aristoteles sogar nachteilig. Für die geistige Elite hingegen sei das Studium der Werke jedoch sowohl aus theologischer als auch philosophischer Hinsicht das Beste.8

Ibn Rušds Kritik an al-Ġazzālī

Das Werk Faṣl al-maqāl ist das Ergebnis einer tiefen Auseinandersetzung Ibn Rušds mit den Lehren al-Ġazzālīs (gest. 1111 n. Chr.), zu dem er sich kritisch äußert. Anders als al-Ġazzālī war Ibn Rušd davon überzeugt, dass es eine gewisse Gruppe von Gelehrten gäbe, die anhand apodiktischer Erkenntnis dem übrigen Teil der Bevölkerung überlegen sei. Diese Überzeugung tritt auch in seiner Maßgeblichen Abhandlung deutlich hervor. Außerdem war er ein Befürworter der These, wonach die Welt seit der Ewigkeit existiere, also anfangslos sei; eine Lehre, die al-Ġazzālī strikt ablehnte.9 Zugleich kritisiert Ibn Rušd al-Ġazzālī dafür, in seinen Werken eine breite Leserschaft anzusprechen, eine Leserschaft, die größtenteils nicht dazu in der Lage sei, die innere Bedeutung von Texten der Religion zu entschlüsseln. Für diese Menschen sei dementsprechend lediglich die äußere Bedeutung vorgesehen. Wer nicht über die notwendigen Instrumentarien verfüge, die innere Bedeutung der Texte zu erkunden, sich aber dennoch damit befasse, erfahre laut Ibn Rušd lediglich Nachteile hinsichtlich seines Glaubens, was sogar zum Unglauben führen könne. Folglich wird al-Ġazzālī dafür kritisiert, den Unglauben zu verbreiten. Zugleich bezeichnet Ibn Rušd al-Ġazzālī als einen „engen Freund der Philosophie“10, wodurch er ihn durchaus als Philosophen anerkennt. Daher ist al-Ġazzālīs Kritik an den Philosophen (welche er umfangreich in seinem Werk Die Inkohärenz der Philosophen schildert) für Ibn Rušd umso schwerwiegender, weil sie eben von einem Freund der Philosophie stammt:

Ich meine, die Philosophie (ḥikma) ist die Freundin des Religionsgesetzes und ihre Milchschwester. Eine Verwundung ist dann am schmerzhaftesten, wenn sie von Personen kommt, die sich eng mit Philosophie in Verbindung bringen. Trotz der Feindschaft, des Hasses und des Streites, der sich zwischen den beiden erhebt, sind sie von ihrer Natur aus zu gegenseitiger Freundschaft und von ihrem Wesen und ihrer Anlage nach zu gegenseitiger Zuneigung bestimmt.11

Es wird deutlich, was Ibn Rušd durch Faṣl al-maqāl vermitteln möchte, nämlich, dass das islamische Religionsgesetz im Einklang mit der Philosophie stehe und die Theologie von der Philosophie nur profitieren könne. Es handelt sich bei dieser Schrift um eine maßgebliche Antwort auf al-Ġazzālīs Werk Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Islam und Gottlosigkeit (Faiṣal-at-tafriqa baina-l-islām wa-l-zandaqa), was auch den seltsamen Titel von Ibn Rušds Werk erklärt, wobei es darum geht, ein Wort mit derselben Wurzel (f-ṣ-l) wie faiṣal (dt. Kriterium), also faṣl (dt. maßgeblich), hervorzuheben, wie Frank Griffel in seinem Kommentar erwähnt.12

Obgleich sich die beiden Gelehrten in vielen Punkten uneinig sein mögen, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass sowohl al-Ġazzālī als auch Ibn Rušd keine Scheu davor hatten, ihre Gedanken und Schlussfolgerungen kundzutun. Von dieser beispielhaften Grundeinstellung kann die islamische Theologie (sowie jede andere wissenschaftliche Disziplin) auch heute noch profitieren, denn wie Ibn Rušd bereits sagte, wird auch ein Fehlurteil belohnt, solange dieses unter gewissenhaften Voraussetzungen und Einhaltung moralischer Werte gefällt wurde.

1 Frank Griffel (Hg.): Maßgebliche Abhandlung. Faṣl al-maqāl, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2010, S. 9.

2 Ebd., S. 9f.

3 Weitere Verse: 6:75; 7:185; 58:2; (88:17).

4 Rudi Paret [Übers.]: Der Koran, Stuttgart: Kohlhammer 122014.

5 F. Griffel (Hg.) 2010, S. 16.

6 Ebd., S. 29f.

7 Ebd., S. 30.

8 Ebd., S. 110.

9 Ebd., S. 69f.

10 Ebd., S. 109.

11 Ebd., S. 50f.

12 Ebd., S. 103.

Griffel, Frank (Hg.): Maßgebliche Abhandlung. Faṣl al-maqāl, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2010.

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