Muslime und Nationalsozialismus

Artikel 16.04.2018 Redaktionsteam

Dieser Beitrag wirft einen Blick auf die Rolle, die Muslime in der Zeit des Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg spielten, wobei die Forschung darüber noch im Gange ist und aufgrund der Komplexität nur schwer generelle Aussagen zu treffen sind.

Muslime kämpften sowohl auf Seiten der Achse als auf jener der Alliierten und waren so als Opfer wie Täter in die Kriegsgeschehnisse und –verbrechen involviert. Vor dem Krieg stand der Großteil der muslimischen Länder unter Fremdherrschaft, es war eine Zeit von Aufruhr und Unabhängigkeitsbestrebungen. Alle Kriegsmächte versuchten mittels Propaganda, die Muslime auf ihre Seite zu ziehen und stellten sich als Beschützer des Islam dar. Vor dem Hintergrund zionistischer Einwanderung in Palästina nahmen antisemitsche Äußerungen und Übergriffe in der arabischen Welt zu, auch wenn sich diese Radikalisierung nicht allein auf die Palästinafrage reduzieren lässt. Die ideologische Beziehung zwischen muslimischer Welt, Islamismus und Nationalsozialismus wird in der Forschung kontrovers beurteilt. Ein Beispiel dafür ist die Einordnung der Rolle des Großmuftis von Jerusalem. Zehntausende von Muslimen vor allem aus der Sowjetunion kämpften in Wehrmacht und SS, weshalb sie nach Kriegsende repatriiert und am Galgen oder im Gulag endeten. Ebenso wie es Kollaborateure, Profiteure und Opfer unter Muslimen gab, gab es auch muslimische Helfer für die jüdische Bevölkerung angesichts der Verfolgung durch die Nazis, was mit dem Fall der Albaner exemplarisch aufgezeigt wird.


Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs waren nur wenige Länder mit muslimischer Bevölkerung unabhängig (wie die Türkei, der Iran und Arabien). Millionen von MuslimInnen lebten hingegen unter direkter oder indirekter Kolonialherrschaft der Briten, Franzosen, Italiener und Sowjets, die auf einem System von „Ungleichheit und Ausbeutung“1 basierte. Es war eine Zeit, in der anti-kolonialer Nationalismus, Aufruhr und die Entstehung muslimischer Widerstandsbewegungen zunahmen, die oftmals von religiösen Autoritäten angeführt wurden wie beispielsweise die Sanūsī-Bewegung in Libyen und muslimische Rebellengruppen im Nordkaukasus. Auch städtische islamische Protestbewegungen wurden gegründet, darunter 1928 die ägyptische Muslimbruderschaft, die sich in der Folge zu einer Massenbewegung mit weitreichendem Einfluss auf verschiedenste politische und religiöse Führer in der islamischen Welt entwickelte.2 Aufgrund der während des Krieges von Teilen der Muslimbruderschaft unverhohlen ausgedrückten Sympathie für die Achsenmächte stand die Organisation unter strenger Beobachtung und teilweiser Zensur der Briten.3

Im Zweiten Weltkrieg wurden auch Nordafrika, der Balkan, die Krim und der Kaukasus zum Kriegsgebiet. Muslime kämpften zu Hunderttausenden sowohl an der Seite des Deutschen Reichs, als auch auf alliierter Seite und waren als „Opfer, Täter und Zeugen“ in den Krieg involviert.4

Alle alliierten Kriegsmächte bemühten sich mittels Propagandamaßnahmen in gedruckter Form, via Radio und – wie in London – etwa auch mit dem Bau neuer Moscheen, die Muslime auf ihre Seite zu ziehen und stellten sich jeweils als Verteidiger des Islams und Beschützer der muslimischen Gläubigen dar. Lokale religiöse Würdenträger warben öffentlich um Unterstützung der Alliierten. Als die Amerikaner 1942 in Marokko und Algerien landeten, riefen sie zum „great Jihad of Freedom“5 auf und übertrugen via Radio mehrmals täglich Koranrezitationen in Nordafrika und im Mittleren Osten. Sogar die Sowjets änderten ab 1942 ihre bis dahin brutale Unterdrückungspolitik gegenüber ihrer muslimischen Bevölkerung, indem sie neue Moscheen bauen ließen und die vorher verbotenen religiösen Praktiken wie die Pilgerfahrt nach Mekka wieder zuließen. Auch Stalins Propaganda sprach vom Dschihad gegen die deutschen Invasoren.6

Der britische Historiker David Motadel schreibt im Kontext der Bedeutung des Islams: „Für die Alliierten war der Islam sowohl potentielle Bedrohung innerhalb der eigenen muslimischen Territorien, als auch machtvolles Instrument in der politischen Kriegsführung.“7 Die Bedrohung ergab sich aus den bereits erwähnten Unabhängigkeitsbestrebungen unter der muslimischen Bevölkerung, welche die Briten mit verstärkter Kontrolle und Zensur zu bändigen versuchten. Dies verstärkte jedoch nur die antibritische Haltung sowie in weiterer Folge die Sympathien für das Dritte Reich, welche sich exemplarisch an „Advance Rommel!“-skandierenden Studenten zeigten, die in Kairos Straßen protestierten.8 Zudem war im britischen Mandatsgebiet Palästina aufgrund der zionistischen Einwanderungspolitik ein „besonders symbolträchtiger neuer Konflikt“9 aufgetreten, der ebenfalls zu Revolten auf muslimischer Seite führte und bereits seit den 1920er Jahren mit Waffengewalt zwischen Christen und Muslimen auf der einen und Juden auf der anderen Seite ausgetragen wurde.10

Während die muslimisch-jüdischen Beziehungen innerhalb der arabischen Welt trotz durchaus vorhandener antijüdischer Stereotype bis in die 1930er Jahre relativ konfliktfrei gewesen waren, kam es nun zeitgleich mit dem zunehmenden nationalsozialistischen Antisemitismus in Deutschland vermehrt zu antisemitischen Äußerungen und Aktionen auf muslimischer Seite. So unter anderem von der Muslimbruderschaft in Ägypten und vom palästinensischen Mufti Amīn al-Ḥusainī (gest. 1974), dessen Rolle im Folgenden noch kurz beleuchtet wird. Antijüdische Vorurteile wie jene vom „hinterhältigen“ und „geldgierigen“ Juden und offene Ablehnung der ansässigen jüdischen Bevölkerung traten gehäuft in Witzen, Karrikaturen, Zeitungsberichten und - kommentaren hervor, oft vermischt mit antizionistischer Kritik. Vor diesem Hintergrund wurden jüdische Gemeinden ab 1939 Ziel gewalttätiger Übergriffe, die 1941 im Pogrom im Irak mit dem Tod von über 100 jüdischen Bürgern ihren Höhepunkt fanden, woraufhin sich die Position der arabischen Juden generell verschlechterte.11 Dem deutschen Islamwissenschaftler Götz Nordbruch zufolge formierte sich „in der Auseinandersetzung um Palästina ein Denken, welches den politischen Konflikt mit dem Zionismus zunehmend als existentiellen Kampf mit den Juden deutete. Die Radikalisierung dieses Denkens steht insofern in Bezug zu den sich verschärfenden Krisen der Region, ohne dass sich seine Ursachen auf diese Konflikte reduzieren lassen.“12

Historiker beurteilen heute die ideologische Beziehung zwischen arabisch-islamischer Welt und Nationalsozialismus unterschiedlich bzw. widersprüchlich.13 Nicht nur in islamfeindlichen Kreisen kursieren „Thesen zur ideologischen und historischen Affinität zwischen ‚dem Islam‘ und den Nazis.“14 Dabei werden NS-Propaganda und heutiger Islamismus in einen kausalen Zusammenhang gesetzt.15 Der US-amerikanische Historiker Jeffrey Herf, der sich eingehend mit der arabischsprachigen NS-Radiopropaganda befasst hat, weist auf die „ideologische Synthese“16 von Nationalsozialismus und Islamismus zwischen 1941 und 1945 hin, die seiner Ansicht nach die Grundlagen für die Themen und Slogans von Hamas über al-Qaida bis Ahmadinejad bilden.17 Doch wie wurde die NS-Ideologie von der breiten muslimisch-arabischen Bevölkerung rezipiert? Im Hinblick auf Politik und Programmatik des Nationalsozialismus gab es „in der arabischen Öffentlichkeit teilweise sehr widersprüchliche Bezugnahmen, in denen sich kritische mit wohlwollenden Einschätzungen mischten. (…) Eine antisemitische Weltanschauung begründete (…) keineswegs zwangsläufig Sympathien für das neue nationalsozialistische Deutschland.“18

Dessen waren sich die deutschen Behörden durchaus bewusst, als sie sich ihrer Islampolitik zur Mobilisierung der Muslime zuwandten.19 Deutschland strich in seiner massiven Propagandatätigkeit besonders die vermeintlich gemeinsamen Feinde des Deutschen Reichs und der Muslime heraus, nämlich das British Empire, den Kommunismus und die Juden.20 Die Propaganda stützte sich einerseits auf Druckerzeugnisse, die in millionenfacher Ausfertigung zwischen 1940 und 1943 durch das Afrikakorps und mithilfe deutscher Geheimagenten und arabischer Kollaborateure verbreitet wurden.21 Von besonderer Bedeutung aber war das Medium Radio, das von der (teilweise analphabetischen) Bevölkerung oft kollektiv im öffentlichen Raum wie etwa Kaffeehäusern gehört wurde. Über Kurzwelle sendeten „Radio Berlin“ und die „Stimme des freien Arabertums“ unter Mithilfe arabischer Exilanten und Kollaborateure aus Berlin spezielle Programme mit Musik, Nachrichten und Kommentaren.22 Entgegen Herfs Überzeugung, diese Propaganda habe die Ausdehnung des Holocaust auf den Nahen Osten zum Ziel gehabt, sieht Goldenbaum diese These durch die vorhandenen Quellen nicht gedeckt. Vielmehr habe Deutschland mithilfe der Propaganda versucht, „Großbritannien unter Druck zu setzen und zur Entlastung der Kriegsschauplätze Gewalt in von Alliierten kontrollierten Gebieten bzw. gegen die Alliierten im Nahen und Mittleren Osten zu stimulieren.“23

Im Kontext der deutschen Auslandspropaganda wird häufig der vergleichsweise einflussreiche und extrem antisemitische Großmufti von Jerusalem, Amīn al-Ḥusainī erwähnt, der sich ab 1941 in Berlin aufhielt, wo es auch zu einem (allerdings einmaligen) Treffen mit Adolf Hitler kam.24 Wie weit sein Einfluss wirklich reichte, ist umstritten. Dies gilt auch für andere Kollaborateure wie Rašīd ʿĀlī al-Kīlānī, den Anführer des Putsches im Irak, der wie al-Ḥusainī nach Berlin geflohen war.25 Al-Ḥusainī diente den Nazis als Propagandafigur und erhoffte sich seinerseits deren Unterstützung im Kampf gegen das britische Völkerbundmandat und die jüdischen Einwanderer in Palästina.26 Er war ein Kriegsverbrecher, der zur Tötung von Juden und dem Dschihad aufrief und dennoch nach dem Krieg seiner Verfolgung entging.27 Doch dass er Hitler zum Holocaust angestiftet habe, während dieser die Juden nur hatte vertreiben wollen, entbehrt jeder historischen Grundlage. Dies hatte Israels Premier Benjamin Netanjahu im Jahr 2015 behauptet.28

Ab 1941, als der Krieg muslimische Territorien erreichte, wurden Zehntausende Muslime für Wehrmacht und SS rekrutiert, mit dem Versprechen, ihre Heimat zu befreien. Die meisten kamen aus der Sowjetunion, viele aus dem Balkan, manche aus dem Mittleren Osten und Nordafrika. Sie wurden großteils in Kriegsgefangenenlagern rekrutiert und waren in den muslimischen Ostlegionen der Wehrmacht und SS-Divisionen und -Einheiten am Balkan organisiert, wie der bosnischen Division SS-Handschar.29 Der Islam galt als politische Kraft gegenüber den Alliierten und wurde zu politischen und propagandistischen Zwecken instrumentalisiert. Neben Außenministerium, Wehrmacht und dem sogenannten „Ostministerium“ war besonders die SS in die deutsche Islampolitik eingebunden.30

Gegen Kriegsende kam es zunehmend zu Desertionen unter muslimischen Wehrmachts- und SS-Angehörigen und einige versuchten noch schnell, die Seiten zu wechseln.31 Nach dem Krieg wurden sie auf dem Balkan unter Tito zu Zwangsarbeit oder Exekution verurteilt bzw. laut Beschluss der alliierten „Großen Drei“ auf der Jalta-Konferenz in die Sowjetunion zwangsdeportiert, wo sie – international unbeachtet, wie der Schriftsteller und damalige Kriegsreporter George Orwell (gest. 1950) konstatierte – als Hochverräter massakriert wurden oder im Gulag endeten, bevor die Alliierten schließlich die Auslieferungen stoppten und einige tausend, noch im Westen verbliebene Muslime den Status von „displaced persons“ erhielten.32

Wie Motadel feststellt, sind generelle Aussagen betreffend die Haltung von Muslimen am Balkan und in den sowjetischen Randgebieten gegenüber dem Völkermord an den Juden ebensowenig möglich wie über die muslimische Bevölkerung im Maghreb angesichts faschistischer Diskriminierung und Verfolgung ihrer jüdischen Nachbarn. Es gab Kollaborateure und Profiteure ebenso wie Fälle von Solidarität und solche, in denen jüdische Nachbarn gerettet wurden.33

Ein bekanntes Beispiel stellen die albanischen Muslime dar. Hunderte jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich, Serbien, Griechenland und Jugoslawien fanden Zuflucht in Albanien, dessen jüdische Einwohnerzahl bis dahin nur 200 betragen hatte. Die albanische Bevölkerung rettete fast die Gesamtheit der Juden, die sich in Albanien aufhielten, vor der Verfolgung durch die deutschen Besatzer. Dies geschah vor dem Hintergrund des albanischen Ehrenkodex Besa, das wörtlich „ein Versprechen halten“ bedeutet. Aufgrund ihrer Unterstützung wurden 69 AlbanerInnen als Gerechte unter Völkern ausgezeichnet.34

1 David Motadel: »The Muslim world in the Second World War«, in: Richard Bosworth/Joseph Maiolo (Hg.), The Cambridge History of the Second World War. Volume II: Politics and Ideology, Cambridge: Cambridge University Press 2015, S. 605-626, hier S. 619.

2 Vgl. ebd., S. 605-608.

3 Vgl. ebd., S. 623.

4 Vgl. ebd., S. 626.

5 Ebd., S. 623.

6 Vgl. ebd., S. 626, 621-624.

7 Ebd., S. 622.

8 Vgl. ebd., S. 610.

9 Ebd., S. 607.

10 Vgl. Götz Nordbruch: »Kontroversen in der Forschung. Die Beziehungen zwischen Nationalsozialismus und arabischer Welt«, in: Wolfgang Benz/Juliane Wetzel (Hg.), Antisemitismus und radikaler Islamismus, Essen: Klartext-Verl. 2007, S. 23-41, hier S. 36f.

11 Vgl. ebd., S. 36f.

12 Ebd., S. 39.

13 Vgl. ebd., S. 29.

14 Stefan Ihrig: Holocaust: Den Islam stellt mancher gern in die Nazi-Ecke 2015, www.zeit.de/wissen/geschichte/2015-10/holocaust-jerusalem-netanjahu-hitler-mufti-islam-radikalisierung/komplettansicht, abgerufen am 23.08.2017.

15 Vgl. Hans Goldenbaum: »Nationalsozialismus als Antikolonialismus. Die deutsche Rundfunkpropaganda für die arabische Welt«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016), 449-489, hier S. 449.

16 Jeffrey Herf, in: Karl Pfeifer: »Das Bild der Dritten Welt wird sich verändern«. Jeffrey Herf im Gespräch über islamistische Formen des Antisemitismus 2010, jungle-world.com/artikel/2010/28/41336.html, abgerufen am 14.08.2017.

17 Vgl. ebd.

18 G. Nordbruch 2007, S. 27, 40.

19 Vgl. ebd., S. 40.

20 Vgl. D. Motadel 2015, S. 620.

21 Vgl. Jeffrey Herf: »Hitlers Dschihad. Nationalsozialistische Rundfunkpropaganda für Nordafrika und den Nahen Osten«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58 (2010), 259-286, hier S. 264.

22 Vgl. Jeffrey Herf: »Arabischsprachige nationalsozialistische Propaganda während des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust«, in: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011), S. 359-384, hier S. 372f., 360.

23 H. Goldenbaum 2016, S. 462.

24 Vgl. D. Motadel 2015, S. 616.

25 Vgl. H. Goldenbaum 2016, S. 460, 468.

26 Vgl. ZEIT ONLINE: Netanjahu gibt Palästinenser-Mufti Verantwortung für Holocaust 2015, www.zeit.de/politik/ausland/2015-10/israel-benjamin-netanjahu-adolf-hitler-holocaust-mufti, abgerufen am 23.08.2017.

27 Vgl. J. Herf: 2010, S. 266.

28 Vgl. ZEIT ONLINE 2015.

29 Vgl. Motadel 2015, S. 615.

30 Vgl. David Motadel: Islam and Nazi Germany's war, Cambridge u.a.: The Belknap Press of Harvard University Press 2014, S. 313f.

31 Vgl. ebd., S. 310.

32 Vgl. ebd., S. 311f.

33 Vgl. ebd., S. 616.

34 Vgl. Yad Vashem. Internationale Holocaust Gedenkstätte: Besa, ein Ehrenkodex – Muslimische Albaner retten Juden während des Holocaust 2017, www.yadvashem.org/yv/de/education/lesson_plans/besa.asp, abgerufen am 07.09.2017.

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