Naṣr Ḥāmid Abū Zaid – Leben und Ansätze

Artikel 03.05.2022 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem ägyptischen Intellektuellen Naṣr Ḥāmid Abū Zaid. Nach einer kurzen Schilderung seiner Biografie wird auf zwei wesentliche Aspekte eingegangen, für die Abū Zaid internationale Bekanntheit erlangt hat – einerseits seine Koranhermeneutik und andererseits die Apostasievorwürfe gegen ihn, die seine Zwangsscheidung nach sich zogen.


Biografie

Naṣr Ḥāmid Abū Zaid wurde im Sommer 1943 in Quhafa, einem Dorf in der Nähe der ägyptischen Stadt Tanta, geboren. Die finanzielle Lage seiner Familie erlaubte ihm zunächst keinen Hochschulbesuch. So absolvierte er eine Ausbildung zum Telekommunikationstechniker, die ihm anschließend eine Immatrikulation an der Universität Kairo ermöglichte. Er absolvierte ein Bachelorstudium in Arabistik, während er seinen Master in Arabistik und Islamwissenschaften abschloss. In jener Zeit verbrachte er auch zwei Studienjahre an der University of Pennsylvania. Nach seinem Abschluss begann er seine akademische Laufbahn als Assistenzprofessor an der Universität Kairo, wo er 1981 promovierte. Als Gastprofessor war Abū Zaid unter anderem in den Vereinigten Staaten und in Japan tätig1 sowie in den Niederlanden.

Apostasievorwürfe und Zwangsscheidung

Im Jahr 1992 beantragte Abū Zaid eine ordentliche Professur und legte dafür unter anderem sein Buch Kritik des religiösen Diskurses vor. Sein Antrag musste von drei Gutachtern befürwortet werden, von denen zwei diesen begrüßten. Der dritte Gutachter, ʿAbd aṣ-Ṣabūr Šāḥīn, lehnte Abū Zaids Antrag zur ordentlichen Professur ab und bezichtigte ihn der Ketzerei und des Atheismus. Trotz der zwei anderen positiven Gutachten setzte sich Šāḥīn durch und verhinderte Abū Zaids Berufung. Auch wenn Abū Zaid viele Unterstützer fand, war die Reichweite von ʿAbd aṣ-Ṣabūr Šāḥīn deutlich größer, weil er nicht nur als Professor tätig war, sondern als berühmter Prediger nicht zuletzt auch über einen signifikanten medialen Einfluss verfügte. Durch seine öffentliche Diffamierung als Apostat wurde Abū Zaid massiv angefeindet und erhielt sogar Morddrohungen. Einige seiner Gegner beantragten bei Gericht die zwangsweise Scheidung Abū Zaids von seiner Ehefrau Ibtihāl Yūnis mit der Begründung, Abū Zaid sei kein Muslim mehr und eine muslimische Frau dürfe nur mit einem muslimischen Mann verheiratet sein. Somit sei diese Ehe ungültig. Nach unzähligen Debatten und großer medialer Präsenz wurde die Klage im Jänner 1993 mit der Begründung abgewiesen, dass das Interesse der Kläger nicht rechtlicher, sondern eher persönlicher Natur wäre. Der Fall schien somit abgeschlossen zu sein und Naṣr Ḥāmid Abū Zaid wurde 1995 zum ordentlichen Professor an der Universität Kairo berufen. Kurz darauf fällte der Richter ʿAbd al-ʿAlīm Mūsā jedoch die Entscheidung, Abū Zaid doch von seiner Frau zu scheiden. Erneut gab es großen medialen Aufruhr um diesen Fall, weil viele nicht mehr damit gerechnet hatten, dass diese Zwangsscheidung vollzogen werden könnte. Als Begründung nannte der Richter „Apostasie (irtidad), Häresie (kufr) und religiöse […] Heuchelei (nifaq)“2. Nach der Urteilsverkündung sahen sich die Eheleute großer Lebensgefahr ausgesetzt, erfuhren aber zugleich breite moralische Unterstützung, nicht nur durch ihre Landsleute. Auch Anwälte und Wissenschaftler, welche die akademische Freiheit gefährdet sahen, engagierten sich und wollten gegen das Urteil ankämpfen. Trotzdem entschlossen sich Naṣr Ḥāmid Abū Zaid und seine Frau Ibtihāl Yūnis, die folgenden Jahre in den Niederlanden im Exil zu leben.3

Denkansätze bei Abū Zaid

In seinen zahlreichen Publikationen präsentiert Naṣr Ḥāmid Abū Zaid einige Gedankengänge und Denkansätze, von denen im Folgenden eine Auswahl präsentiert wird.

Eine Art, den Koran zu deuten, stellt die literaturwissenschaftliche Koranauslegung dar. Ihre Anfänge hat diese Methode in den 1930er Jahren bei Amīn al-Ḫūlī (gest. 1966). Ihm zufolge sollte der Koran ebenso wie andere literarische Texte analysiert werden und es nicht das Ziel sein, „historisch genaue Schilderungen vergangener Ereignisse oder überzeitliche Verhaltensvorschriften zu liefern, sondern ihnen [den damaligen Menschen] mit Hilfe literarischer, das heißt am Ende: künstlerischer Mittel einen für die damalige Zeit angemessenen rechten Weg des Glaubens und des sozialen Verhaltens zu weisen.“4 Allerdings wurde al-Ḫūlī die Lehrerlaubnis für die literaturwissenschaftliche Koranexegese entzogen. Grund dafür war eine Diskussion um die Doktorarbeit seines Studenten Aḥmad Ḫalafallāh. Abū Zaid hat al-Ḫūlīs Ansatz nach circa dreißig Jahren in seiner Magisterarbeit wieder aufgegriffen. Allerdings sieht er die Ursprünge der literaturwissenschaftlichen Koranexegese nicht bei al-Ḫūlī selbst, sondern bei frühislamischen Denkern, besonders dem Ašʿarīten ʻAbd al-Qāhir al-Ǧurǧānī (gest. 1078), welcher der Stilistik beim Verständnis des Korans eine enorme Bedeutung zuschrieb.5

Zudem betonte Abū Zaid die Textualität des Korans. Hier knüpft er am oben erwähnten Ansatz an und betont den Einfluss der Worte. Er beschreibt die Entwicklung beginnend beim Wort selbst bis zu dem, was unter diesem Wort verstanden wird. Diese Entwicklung sei kontextabhängig und somit dynamisch. Aufgrund der Weiterentwicklung der Sprache sollte man auch den Koran neu deuten, um ihn für die entsprechenden Gesellschaften jeweils verständlich zu machen. Dabei stützt sich Abū Zaid auf die in Koran 3:7 erwähnten mehrdeutigen Verse,6 wo es heißt: „Er ist es, der dir von droben diese göttliche Schrift erteilt hat, Botschaften enthaltend, die klar in und durch sich selbst sind, – und diese sind die Essenz der göttlichen Schrift – wie auch andere, die allegorisch sind. […]“7

Abū Zaids These der Historizität des Korans, die oftmals mit der muʿtazilitischen Ansicht der Erschaffenheit des Korans verglichen wird, weist signifikante Unterschiede zu letzterer auf. Denn die Betonung der Muʿtazila beruht auf dem Argument, dass der Koran nicht ewig, sondern zu einem gewissen Zeitpunkt erschaffen sei.8 Hingegen argumentiert Abū Zaid, dass der Koran „im Moment seiner Offenbarung in Reaktion auf die Situation Muhammads und seiner Zeitgenossen“9 verfasst wurde. Somit sei der Koran in Sprache und Stil an die damalige Gesellschaft angepasst. Der libanesische Islamwissenschaftler Georges Tamer sieht dies folgendermaßen: „Der Koran war Gottes Offenbarung an den Propheten Muhammad im Arabien des 7. Jahrhunderts und somit gleichzeitig auch ein Produkt der arabischen Kultur.”10

Ein weiterer Aspekt, den Abū Zaid aufgreift, ist die Bedeutung des Korans im Alltagsleben und bei Ritualen. Abū Zaid konnte den Koran selbst auswendig und beschäftigte sich mit Koranrezitation. Er betont die ästhetische Komponente der Koranrezitation, welche eine individuelle Verbindung zwischen Mensch und Gott herstelle und so eine Kommunikation ermögliche.

Im Sommer 2010 verstarb Naṣr Ḥāmid Abū Zaid in Folge einer Infektion in Kairo. In Erinnerung an diesen renommierten Wissenschaftler errichtete seine Ehefrau Ibtihāl Yūnis 2011 in Kairo das „Dr. Naṣr Ḥāmid Abū Zayd Institute for Islamic Studies“.

Naṣr Ḥāmid Abū Zaid bleibt nicht nur für seine Lebensgeschichte und seinen hermeneutischen Ansatz in Erinnerung, sondern auch für seinen Kampf für Meinungsfreiheit und Frauenrechte.

1 Vgl. Georges Tamer: »NASR HAMID ABU ZAYD«, in: International Journal of Middle East Studies 43 (2011), S. 193-195, hier S. 193-195.

2 Nasr Hamid Abu Zaid: Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses. Aus dem Arabischen von Chérifa Magdi. Einleitung von Navid Kermani, Frankfurt am Main: dipa-Verlag 1996, S. 13.

3 Vgl. ebd., S. 11-16.

4 Nasr Hamid Abu Zaid: Gottes Menschenwort. Für ein humanistisches Verständnis des Koran. Ausgewählt, übersetzt und mit einer Einleitung von Thomas Hildebrandt, Freiburg im Breisgau: Verlag Herder 2008, S. 16.

5 Vgl. ebd., S. 15-20.

6 Vgl. ebd., S. 24-28.

7 Muhammad Asad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar, Ostfildern: Patmos Verlag 2013, S. 106.

8 Vgl. N. H. Abu Zaid 2008, S. 24-28.

9 Ebd., S. 27.

10 G. Tamer 2011, S. 194. (Übers. d. Verf.)

Abu-Zayd, Nasr: »The ‘others’ in the Qur’an«, in: Philosophy & Social Criticism 36 (2010), S. 281-294.

Abu Zaid, Nasr Hamid: Ein Leben mit dem Islam. Aus dem Arabischen von Chérifa Magdi. Erzählt von Navid Kermani, Freiburg im Breisgau: Verlag Herder 1999.

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