Aš-Šāṭibī (gest. 1388): Ein „Aufklärer“ im Mittelalter?

Artikel 30.07.2018 Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit dem andalusischen Gelehrten Abū Isḥāq aš-Šāṭibī (gest. 1388), dessen systematische Darstellung der "Absichten der Scharia" (maqaṣid aš-šarīʿa) eine besondere Stellung in der islamisch-theologischen Tradition, insbesondere im Bereich der islamischen Rechtswissenschaften, einnimmt. Obwohl über das Leben des Gelehrten nicht viel bekannt ist, wird im Folgenden abgesehen von den Lehren und Hauptwerken, auch auf biografische Eckdaten eingegangen, um den Kontext zu verdeutlichen, in dem er wirkte.


Leben und Werke

Der Gelehrte Abū Isḥāq aš-Šāṭibī lebte und wirkte in Granada in al-Andalus, dem damals muslimisch beherrschten Teil der iberischen Halbinsel. Sein genaues Geburtsjahr ist nicht bekannt, jedoch wird davon ausgegangen, dass sein Geburtstag zwischen 1320 und 1330 n. Chr. datiert werden kann. Zeit seines Lebens herrschte die Dynastie der Nasriden in Granada, die einen engen Kontakt mit den christlichen Nachbarn pflegten, was wiederum entsprechenden Einfluss auf die dortige muslimische Gesellschaft insgesamt hatte. Aš-Šāṭibī gehörte der Rechtsschule der Mālikiyya an, die im damaligen Königreich dominant war und unter der Dynastie der Nasriden wohl einen ihrer Höhepunkte hatte. Ein hohes Maß an Ideenreichtum, insbesondere im Bereich der Rechtswissenschaft (fiqh) lässt sich zu dieser Zeit datieren, was auch Auswirkungen auf aš-Šāṭibī gehabt haben dürfte.1

Aš-Šāṭibī war vor allem ein Experte unter den Disziplinen der Sprachwissenschaft und des Fiqh. Er lehrte aber auch die Fiqh-Methodologie, Hadith, die Lesarten des Korans und Grammatik. Seine Methodologie erläutert er in seinem (aus vier Bänden bestehenden) Hauptwerk al-Muwafaqaat. Einem ganzen Band davon wiederum widmet er die ausführliche und systematische Behandlung der Absichten der Scharia (maqaṣid aš-šarīʿa).2 Die umfangreiche Darlegung der maqaṣid aš-šarīʿa des andalusischen Gelehrten fand interessanterweise erst in der Moderne ihre bis heute bestehende Anerkennung.3 In al-Muwafaqaat unterteilt er die Usūl al-fiqh in fünf Bereiche: die Einführungen, die Normen (al-aḥkām), die Absichten bzw. Maximen (al-maqaṣid), die Quellen (adilla) und iǧtihād, also die Erkundung von Normen durch eigene Urteilsfindung.4

Zeit seines Lebens hatte der Gelehrte wohl auch viele Kritiker. In seinem zweitbedeutendsten Buch al-Iʻtiṣām geht er näher auf die von seinen Kritikern ausgeübten Vorwürfe ein, die unter anderem behaupteten aš-Šāṭibī würde versuchen durch seine Rechtsgutachten die Religion zu erschweren. Tatsächlich ist auch sein Hauptwerk al-Muwafaqaat sehr komplex. Dies mag vielleicht auch der Grund dafür sein, weshalb sein Werk so spät, nämlich erst im 20. Jahrhundert, auf großes Interesse stieß. Auch in den Werken berühmter Zeitgenossen aš-Šāṭibīs, wie beispielsweise in den Werken des Universalgelehrten und Historikers Ibn Ḫaldūn (gest. 1406), lassen sich keine Erwähnungen von ihm finden.5

Aš-Šāṭibīs methodologisches Vorgehen der Induktion (Istiqraʿ)

Zentral und hervorstechend bei seinem Werk ist sein induktives Vorgehen. Das bedeutet, dass er aus Einzelfällen eine allgemein gültige Regel erschließt und dadurch allgemeine Prinzipien ableitet. Daraus wird wiederum ersichtlich, dass aš-Šāṭibī seinen Fokus nicht auf eine wörtliche Auslegung des Korans und der Sunna legt, denn dadurch allein könnten die Absichten Gottes nicht ersichtlich werden. Es sei wichtig Näheres über den Kontext der damaligen Araber zu erfahren und die Kenntnisse bezüglich der Offenbarungsanlässe (Asbāb an-nuzūl) zu vertiefen und zu berücksichtigen.6 Allein durch das induktive Vorgehen könne man feststellen, welche Prinzipien aus den islamischen Quellen gültig seien. Eine Annahme wäre demnach nur dann sicher, wenn es mehrere Hinweise für ein bestimmtes Prinzip in den islamischen Quellen gibt, die auf dieselbe Bedeutung hinweisen. Ein Hinweis, der auf ein potenzielles Prinzip hindeute, werde demzufolge durch weitere Hinweise bestärkt, um daraus ein allgemeines Prinzip ableiten zu können. Die Argumentation baut also stets auf islamische Textstellen auf, die sich gegenseitig unterstützen und durch Anwendung der menschlichen Vernunft zu einer sicheren Erkenntnis führen. Zugleich wird aber ebenfalls betont, dass durch die alleinige Verwendung der Vernunft die Gefahr bestehe, dass die Menschen ihre individuellen Interessen durchsetzen könnten, was zu einem egoistischen Verhalten führen könnte. Um dies zu vermeiden sei es von Bedeutung die Wichtigkeit des jenseitigen Wohls hervorzuheben, das den diesseitigen Interessen übergeordnet sei. Auch die Grundsätze der Absichten der Scharia werden durch diese methodologische Herangehensweise begründet. Zu diesen Grundsätzen gehören Religion, Leben, Nachkommenschaft, Eigentum und Vernunft. Ohne diese Grundsätze oder Notwendigkeiten (daruriyyat), sowie deren Schutz, könne keine aufrichtige muslimische Gesellschaft existieren.7

Der Kerngedanke ist es also nicht, sich unreflektiert der Offenbarung Gottes zu ergeben, sondern die Offenbarung als ein Zeichen der Gnade Gottes zu verstehen, die dazu führe das Gute zu gebieten und das Schlechte abzuwenden, was wiederum zur Glückseligkeit führe. Dies ist somit die Ausgangsphase nach der Erkundung der Absichten der Scharia und in seinem Hauptwerk geht aš-Šāṭibī unter anderem auch dieser Frage auf den Grund, um die innere Logik der Scharia zu erforschen.8

Aš-Šāṭibī und der taṣawwuf (Sufismus)

Aš-Šāṭibī hatte auch eine gewisse Sympathie gegenüber dem taṣawwuf (Sufismus). Im Laufe seines Lebens ließ er sich von einer Fülle von Gelehrten unterrichten. Der bekannteste darunter war wohl der Gelehrte Abū ʿAbd Allāh al-Maqqarī (gest. 1357), durch den er einen engeren Kontakt mit dem Sufismus aufbauen konnte. In seinem bereits erwähnten Werk al-Iʻtiṣām geht aš-Šāṭibī näher auf diese Strömung des Islams ein und bleibt dabei aber auch nicht kritiklos, obgleich er dem bescheidenen Lebensprinzip der Sufis sehr positiv gegenübersteht. Seine Kritik richtet sich allerdings nicht direkt an den taṣawwuf, sondern vielmehr an die Lebenspraxis einiger Sufis, die ein zurückgezogenes und isoliertes Leben führen. Aš-Šāṭibīs Interesse an den Sufismus verdeutlicht auch den erheblichen Einfluss, den diese islamische Strömung auf die damalige Gesellschaft insgesamt gehabt haben muss. Dieser mystische Einfluss könnte eine entscheidende Rolle dabei gespielt haben, als der Gelehrte letztendlich den Stellenwert der Absichten der Scharia so stark hervorgehoben hat.9

Das Prinzip der Nützlichkeit (Maṣlaḥa)

Die Scharia hat also das Ziel das Gute zu gebieten und das Schlechte abzuwenden. Demnach sei es auch nicht sinnvoll die religiösen Normen und Handlungen unreflektiert zu übernehmen, da das Wohl der Menschen im Mittelpunkt stehe und nicht die unüberlegte Durchführung bestimmter Praxen. In diesem Zusammenhang betont aš-Šāṭibī auch das Prinzip der Nützlichkeit (Maṣlaḥa): "Die Normen der Scharia wurden nur zur Verwirklichung des Nützlichen und zur Abwendung des Schädlichen gemacht."10

Dieses Zitat verdeutlicht auch, dass die Scharia nicht aufgrund von Durchsetzungen willkürlicher Interessen existiert. Wenn Gott und sein Gesandter, der Prophet Muhammad, in der Scharia etwas für verboten erklärt haben, dann ist dem so, weil ein größerer Schaden in dem Verbotenen liege, als es von Nutzen sein könne. Ebenso sind jene Aufgaben und Handlungen, die die Scharia gebietet, deshalb durchzusetzen, weil in diesen Geboten ein Nutzen für die Menschheit liege. Je nach Kontext können hingegen laut aš-Šāṭibī bestimmte Handlungen, die eigentlich als verboten gelten, entschuldigt werden. Aš-Šāṭibī betont hierbei den menschlichen Willen überleben zu wollen (Schutz des Lebens). Wenn es also beispielsweise eine lebensentscheidende Notsituation gäbe, in der ein(e) Muslim(a) kurz vor dem Verhungern wäre, so wäre es ihm oder ihr erlaubt Lebensmittel zu verzehren, deren Verzehr im Normalfall verboten ist. Hierzu gehört beispielsweise das Konsumieren von alkoholischen Getränken oder von Schweinefleisch. In jeder Handlung kann somit, je nach Situation, sowohl Nutzen als auch Schaden liegen, wodurch die Relativität der Nützlichkeit sichtbar wird. Deshalb müsse man je nach Situation auch das Verhältnis von Nutzen und Schaden abwägen und dabei stets die Absichten der Scharia berücksichtigen.11  

Die innige Auseinandersetzung mit den Zwecken der Scharia gehört somit zu den großen Leistungen aš-Šāṭibīs, die unmittelbar nach seinem Tod leider nicht weitergedacht wurden. Dennoch wird daraus deutlich, dass die Scharia auch schon damals nicht von jedem als statisches Gebilde angesehen wurde und es soll hierbei nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich bei der Scharia nicht um einen Gesetzestext in Form eines Buches handelt. Was Scharia ist oder sein könnte, wird folglich von Muslimen unterschiedlich aufgefasst. Šāṭibīs Ansatz ermöglicht einen zeitgemäßen und realistischen Umgang, da er Scharia eben nicht als einen monolithischen Block verstanden hat, sondern als einen dynamischen Prozess, der unterschiedliche Resultate hervorbringen kann, weil er zeit- und ortsgebunden ist und daher nicht unbedingt, wie heutzutage von fundamentalistischen Kreisen behauptet, demokratischen Werten widersprechen muss.

1 Muhammet S. Duran: Zur Theorie einer teleologischen Methode in der islamischen Normenlehre. Dissertation 2013, S. 87-95.

2 Ebd., S. 105-107.

3 Jameleddine Ben-Abdeljelil/Serdar Kurnaz: Maqāṣid aš-Šarīʿa. Die Maximen des islamischen Rechts (= Frankfurter Schriften zum Islam, Band 1), Berlin: EB-Verl. 2014, S. 131.

4 Ali Ghandour: Fiqh. Einführung in die islamische Normenlehre (= Studienreihe Islamische Theologie, Bd. 2), Freiburg i. Br.: Kalām 2014, S. 56.

5 M. S. Duran, S. 102-119.

6 J. Ben-Abdeljelil/S. Kurnaz, S. 131-134.

7 Ebd., S. 176-210.

8 A. Ghandour, S. 82.

9 M. S. Duran, S. 101-117.

10 Ebd., S. 198.

11 Ebd., S. 201-210.

Ben-Abdeljelil, Jameleddine/Kurnaz, Serdar: Maqāṣid aš-Šarīʿa. Die Maximen des islamischen Rechts (= Frankfurter Schriften zum Islam, Band 1), Berlin: EB-Verl. 2014.

Duran, Muhammet S.: Zur Theorie einer teleologischen Methode in der islamischen Normenlehre. Dissertation 2013.

Ghandour, Ali: Fiqh. Einführung in die islamische Normenlehre (= Studienreihe Islamische Theologie, Bd. 2), Freiburg i. Br.: Kalām 2014.

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