Die Methoden der Koranexegese
Die Koranexegese gehört zu den bedeutsamsten Forschungsfeldern der Islamischen Theologie, wobei sie nicht unumstritten ist. So finden sich Strömungen, die eine Erläuterung des Korans, außer durch den Gesandten selbst, der als erster Exeget gilt,1 gänzlich ablehnen. Auf der anderen Seite gibt es wiederum Strömungen, die im Koran selbst eine Motivation dafür finden, ihn zu erläutern. Als hauptsächliche Grundlage für die Legitimation, ja sogar den Aufruf zur Koranexegese, wird Koran 3:7 herangezogen. Darin wird von zweierlei Arten von koranischen Versen gesprochen. Solche, die eindeutig (muḥkam) sind und keiner zusätzlichen Erläuterung bedürfen und solche, die mehrdeutig (mutašābih) sind und über deren Bedeutung keine Einigkeit herrscht. Die letzteren Verse werden von Verfechtern der Koranexegese als Anreiz gesehen, um sie zu deuten. Unter den Koranexegeten haben sich dabei unterschiedliche Methoden herausgebildet. So werden im Folgenden die traditionalistische (textuell-philologische)2 Exegese (at-tafsīr bi-ʾl-maʾṯur), die rationalistische (kontextuell-philosophische)3 Exegese (at-tafsīr bi-r-raʾy), die mystische (metatextuell-hermeneutische)4 Exegese (at-tafsīr al-išārī) sowie die schiitische Exegese erläutert.
Die traditionalistische Methode
Die traditionalistische Methode der Koranexegese (at-tafsīr bi-ʾl-maʾṯur) stützt sich auf die Aussagen des Gesandten Muhammad, der Prophetengefährten (ṣaḥāba) und deren Nachfolger (tābi'ūn)5 Zu Ersteren gehören etwa die sog. Vier Rechtgeleiteten Kalifen (al-ḫulafāʾ ar-rāšidūn) Abū Bakr, ʿUmar, ʿUṯmān und ʿAlī. Bei den Nachfolgern sind unter anderem die Namen Saʿīd b. Ǧubair, Abū Ṣāliḥ Bāḏām und Muǧāhid b. Ǧabr bekannt.6 Die Verfechter dieser Methode lehnen den Einsatz des Verstandes bei der Exegese ab. Als Grundlage dafür nehmen sie die prophetische Aussage, nach der es heißt: „Wer das Buch Allahs im Lichte seiner Meinung auslegt, auch wenn er Recht hat, der hat einen Fehler begangen.“7 Der an der University of Toronto tätige Islamwissenschaftler Walid A. Saleh unterscheidet zwei Formen der traditionalistischen Methode. So gäbe es zum einen die „radikale“ traditionalistische Exegese, bei der nur der Gesandte, seine Gefährten und deren Nachfolger den Koran interpretieren dürfen. Darunter gäbe es auch Strömungen, welche dies allein dem Gesandten zuschreiben. Auf der anderen Seite gäbe es die sunnitische Hauptströmung der traditionalistischen Koranexegese, die beispielsweise der islamische Gelehrte Aṭ-Ṭabarī (gest. 923) anwendete8 Dem tunesischen Gelehrten Ibn-ʿĀšūr (gest. 1973) zufolge weist Aṭ-Ṭabarīs Korankommentar Ǧāmi‘ al-bayān fī tafsīr al-Qur’ān, der überwiegend der traditionalistischen Methode zugeordnet wird, durchaus rationalistische Elemente auf. Denn es sei der Verfasser selbst, der entscheide, welche Überlieferungen er zur Untermauerung der Verse heranziehe. Außerdem verwende er Redegewohnheiten der Araber (kalām al-ʿarab), was seinem Tafsir einen subjektiven, nicht ausschließlich auf den Gesandten und die zwei Nachfolgegenerationen gestützten Charakter gäbe.9 Auch die zeitgenössische Islamwissenschaftlerin Dina El Omari meint in diesem Zusammenhang:
„Denn auch wenn Exegeten wie aṭ-Ṭabarī ihre Exegese auf den Überlieferungen aufbauen, hält sich der Exeget dennoch nicht vorbehaltlos heraus. Er entscheidet nicht nur von wem er was überliefert, sondern auch über die Authentizität der Personen, von denen er überliefert. Außerdem ordnet er die Überlieferungen in einer bestimmten Reihenfolge an und beurteilt sie teilweise. All diese Dinge sind bereits Interpretationen, die ebenfalls auf dem eigenen Bemühen basieren.“10
Schwierigkeiten bei dieser Methode der Koranexegese bestehen in den vielen Überlieferungen, die nicht authentisch (ṣaḥīḥ) sind.
Die rationalistische Methode
Während die traditionalistische Methode sich ausschließlich auf Überlieferungen stützt, legt die rationalistische Methode der Koranexegese (at-tafsīr bi-r-raʾy) Wert auf die individuelle Meinung des Exegeten / der Exegetin sowie auch auf grammatikalische und stilistische Elemente der Sprache. Ein Argument, welches für die rationalistische Methode spricht, ist nach El Omari die Tatsache, dass selbst die Gefährten und deren Nachfolger nicht immer derselben Meinung waren. Um zu logischen Schlussfolgerungen in der Deutung des Korans zu kommen, ist es demnach notwendig, zu rationalen Elementen zu greifen.11 Auch der bereits erwähnte Gelehrte Ibn ʿĀšūr ist Befürworter dieser Methode. Allerdings hebt er fünf Fälle hervor, bei denen at-tafsīr bi-r-raʾy nicht zulässig sei. Beim ersten Fall würden „Belege aus der arabischen Sprache, der Ziele der Scharia, des Abrogierenden und Abrogierten sowie der Anlässe der Offenbarung“12 nicht beachtet werden. Weiters stelle unzureichendes Wissen über den Koran und über schon vorhandene Tafsīr-Werke eine Hürde bei der rationalistischen Methode dar. Ibn ʿĀšūr kritisiert ebenso, dass ein Exeget / eine Exegetin den Koran in Hinblick auf seine / ihre Rechtsschule (maḏhab) deute, so dass anderen Rechtsschulen eine gewisse Wahrheit abgesprochen werde. Auch wenn die linguistischen Aspekte des Korans bei der rationalistischen Methode eine große Rolle spielen, kritisiert Ibn ʿĀšūr die ausschließliche Reduzierung des Korans auf seinen sprachlichen Charakter. Nicht zuletzt entkräftet er den oben genannten Hadith, indem er behauptet, dass Hadithe dieser Art lediglich dazu aufriefen, den Koran mit einer gewissen Vorsicht zu deuten, dies jedoch nicht vollkommen verbieten würden.13 Der berühmte islamische Gelehrte al-Ġazzālī (gest. 1111) lehnt die raʾy-Methode mit der Begründung ab, diese könne für individuelle Zwecke instrumentalisiert werden.14 Zu den Koraninterpretationen dieser Art gehört der Al-Kaššāf von Az-Zamaḫšarī (gest. 1143).15
Die mystische Methode
Charakteristisch für die mystische Methode der Koranexegese (at-tafsīr al-išārī) ist neben der Berücksichtigung des sichtbaren Wortsinnes (ẓāhir) auch jene des inneren Wortsinnes (bāṭin).16 Dabei besteh die Gefahr, dass der komplette Koran als Metapher gedeutet werden könnte, deren Bedeutung sich jede/r individuell erschließen soll. Ibn ʿĀšūr führt unterschiedliche Arten der mystischen Methode an und begründet, inwiefern diese legitim seien. Die erste besteht darin, dass das ursprüngliche Wort, das in einer Überlieferung genannt wird, eine sprachliche Ähnlichkeit mit dem Wort hat, mit dessen Hilfe es gedeutet wird. So kann man beispielsweise das Wort masāǧid (Gebetsstätten) mit dem Wort suǧūd (Niederwerfung) in Verbindung bringen. Diese Art von at-tafsīr al-išārī ist nach Ibn ʿĀšūr legitim. Nicht legitim wäre die Deutung allerdings, wenn der Fokus nicht etwa auf den sprachlichen Ähnlichkeiten, sondern auf dem ähnlichen Klang einer Textpassage liegen würde. Demnach könne man eine Verbindung zwischen Textpassagen nur aufgrund der Tatsache eines ähnlichen Wortklangs herstellen.17 Ein beliebter Koranvers, der im Sinne dieser Methode gedeutet wird, ist der sogenannte Lichtvers (Koran 24:35). Zu den frühesten mystisch ausgelegten Korankommentaren gehört jener des irakischen Sufis At-Tustarī (gest. 896).18
Die schiitische Methode
Während sich die SchiitInnen als AnhängerInnen der ursprünglichen Form des Islams betrachten, sehen SunnitInnen in ihnen eine Abspaltung.19 Aus diesem Grund muss auch die Koranexegese der SchiitInnen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden, nämlich aus der sunnitischen Außenperspektive sowie aus der schiitischen Innenperspektive. So behauptet etwa der ägyptische Azhar-Gelehrte Muḥammad Ḥusain aḏ-Ḏahabī (gest. 1977), das Ziel der schiitischen Koranexegese sei, ihre Lehren, wie beispielsweise jene der Unfehlbarkeit der Imame oder der Zeitehe, zu untermauern. Sie würden demnach den Koran gemäß ihren Interessen deuten.20 Hingegen betrachtet Maḥmūd Basyūnī Fūda, ebenso ein Azhar-Gelehrter, die SchiitInnen nicht als eine einheitliche Sekte, deren Lehren nicht mit den sunnitischen vereinbar wären. Er differenziert ihre Lehren und behauptet, dass es sowohl solche gäbe, die den sunnitischen sehr ähnlich seien, als auch solche, die sich stark von ihnen unterscheiden würden. Aus diesem Grund betont er die Bedeutsamkeit der schiitischen Tafsīr-Werke und behauptet, diese seien für die Wissenschaft der Koranexegese durchaus wichtig.21
As-Saiyid Abū l-Qāsim al-Ḫūʾī (gest. 1992), einer der bedeutsamsten schiitischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts, fasste die Charakteristika der schiitischen Koranexegese in fünf Punkten zusammen. Laut diesen haben der äußere Wortlaut des Korans (ẓāhir al-qurʾān), der gesunde Menschenverstand und die Aussagen des Gesandten und der Imame eine normative Beweiskraft (ḥuǧǧīya) in der Koranexegese. Keine normative Beweiskraft haben hingegen die unterschiedlichen Lesarten des Korans sowie die Abrogation (nasḫ), sofern es sich um einen abrogierenden (nāsiḫ) Vers handle, der einem abrogierten (mansūḫ) Vers widerspreche. Denn ein Widerspruch im Koran sei mit Koran 4:82 ausgeschlossen.22
Selbstverständlich kann diese Ausführung nicht als eine Verallgemeinerung der gesamten schiitischen Lehre gelten, sondern lediglich ein Beispiel darstellen.
Auch wenn die angeführten Methoden immense Unterschiede beinhalten zu scheinen, müssen sie sich nicht unbedingt gegenseitig ausschließen. In der Realität können Korankommentare meist nicht einer einzigen Methode zugeordnet werden, sondern weisen unterschiedliche Elemente auf.23