Die Charidschiten (al-Ḫāriǧīya)

Artikel 19.06.2023 Redaktionsteam

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der frühislamischen oppositionellen Strömung der Charidschiten (arab. ḫāriǧīya). Nach einer allgemeinen Einführung werden Namensgebung, Entstehung, Aufspaltung sowie grundlegende Glaubenslehren dieser eigenständigen Gruppierung erörtert.


Einleitung

Das Charidschitentum (arab. al-ḫāriǧīya) ist eine religiös-politische Oppositionsbewegung, die im frühen siebten Jahrhundert n. Chr. entstanden ist. Der arabische Terminus al-ḫāriǧīya wird aus der mehrdeutigen trikonsonanten Wurzel ḫ-r-ǧ gebildet, deren Grundbedeutungen hinausgehen, sich entfernen, austreten, zum Kampf ausziehen und rebellieren sind.1 Die Anhänger des Charidschitentums werden als Charidschiten (arab. al-ḫawāriǧ, Sg. al-ḫāriǧī) bezeichnet, was wörtlich Auszügler, Ausziehende oder Dissidenten bedeutet.2 Die Angehörigen dieser Gruppierung nannten sich jedoch selbst meist Schurat (arab. aš-šurāt), die [Selbst-] Verkaufenden. Diese sonderbare Eigenbezeichnung wird aus dem charidschitischen Leitprinzip des širāʾ abgeleitet, welches die Selbstaufopferung im Kampf für die Sache Gottes charakterisiert.3

Die Charidschiten spielen insofern eine bedeutende Rolle in der historischen Entwicklung des Islams, als sie höchstwahrscheinlich erstmalig den Begriff al-muslimūn (die Muslime) als Selbstbezeichnung in ihrem Umfeld etablierten. Vorher wurden die AnhängerInnen des Islams üblicherweise als al-muʾminūn (die Gläubigen) tituliert.4

Der Ursprung des Charidschitentums

Die Charidschiten sind aus einem komplexen, soziopolitischen Kontext hervorgegangen, der von Spannungen und Herausforderungen rund um die Nachfolge des Gesandten Muhammad (gest. 632) geprägt war. Das Charidschitentum entstand infolge des Schismas innerhalb der muslimischen Gemeinschaft nach der Ermordung des dritten Kalifen ʿUṯmān (gest. 656).5 Dieses schwerwiegende Ereignis führte zur Aufspaltung in zwei Fraktionen, von denen eine Muhammads Cousin ʿAlī (gest. 661) und dessen Wahl zum neuen Kalifen unterstützte, während die andere Muʿāwiya I. (gest. 680), den Statthalter von Syrien und zugleich Verwandten ʿUṯmāns, unterstützte.6 Muʿāwiya I. weigerte sich von Beginn an vehement, den frisch gewählten Kalifen ʿAlī anzuerkennen und beschuldigte ihn stattdessen, eine Mitschuld an der Ermordung seines Vorgängers zu tragen. Die Heereslager beider Fraktionen standen sich schlussendlich im Jahr 657 in der historischen Schlacht von Siffin (waqaʿat ṣiffīn) am oberen Euphrat gegenüber.7 Als ʿAlīs Anhänger die Oberhand gewinnen konnten, schlug Muʿāwiya I. ihm einen Waffenstillstand vor. Die Differenzen, die sich aufgrund der Ermordung ʿUṯmāns und der strittigen Nachfolge ergeben hatten, wollte er durch die Bestellung zweier Schiedsrichter beilegen, die das Urteil nach dem Koran fällen sollten.8 Als ʿAlī der Einsetzung eines solchen neutralen Schiedsgerichts erstaunlicherweise zustimmte, kam es zu einer entscheidenden Zäsur. Einige seiner zuvor treuen Anhänger verweigerten ihm ihre Loyalität. Sie argumentierten, dass ein solches Schiedsgericht unrechtmäßig sei, da es nur ein menschliches Urteil fällen könne. Stattdessen legten sie den Ausgang der Schlacht als Gottesurteil aus.9 In der Folge riefen sie zum Boykott auf und entfernten sich von ʿAlīs Fraktion mit dem berühmten Ausruf: „Die Entscheidung steht allein Gott zu!“ (arab. Lā ḥukma illā li-Llāh!“). Von diesem Zeitpunkt an wurden diese frühen Charidschiten entsprechend ihrer Parole als al-Muḥakkima bezeichnet.10

Mehrere tausend Personen schlossen sich dieser so genannten Muḥakkima-Bewegung an und zogen sich in einen nahe Kufa gelegenen Ort namens Harūrāʾ zurück.11 Daraufhin soll sich ʿAlī beharrlich bemüht haben, Kontakt mit den neuen Bewohnern von Harūrāʾ aufzunehmen, um sie dazu zu bewegen, freiwillig in sein Heerlager zurückzukehren. Anfangs schienen diese Versöhnungsbemühungen zu glücken, jedoch kam es im Frühjahr 658 zu einer erneuten Abwanderung aus seinem Lager, als deutlich wurde, dass ʿAlī an der Durchführung des Schiedsgerichts festhalten wollte.12 Dieser erneute Auszug führte die Rebellen von Harūrāʾ zum Nahrawan-Kanal (arab. nahr an-nahrawān) östlich des irakischen Flusses Tigris (arab. diǧla). Erst diese spezifische Gruppierung, bestehend aus drei- oder viertausend Menschen, wird in den arabischen Quellen als Charidschiten bezeichnet.13

Innerhalb dieser charidschitischen Bewegung entwickelte sich ein ausgeprägter Fanatismus, der sich in einer Reihe extremistischer Ansichten und terroristischer Aktionen manifestierte: Nicht nur wurden ʿAlī und der verstorbene ʿUṯmān als Ungläubige diffamiert, sondern auch all jene, welche die Überzeugungen der Charidschiten nicht teilten. Es kam daher zu zahlreichen Anschlägen auf Anhänger anderer Glaubensrichtungen, wobei selbst Frauen nicht verschont blieben.14 Aufgrund der zunehmenden Aggressivität sah sich ʿAlī gezwungen zu intervenieren und ein Großteil der Charidschiten wurde bei der Schlacht von Nahrawan im Hochsommer 658 (maʿrakat an nahrawān) getötet. Letztendlich fand auch ʿAlī selbst ein tragisches Ende, als er von einem Charidschiten namens ʿAbd al-Raḥmān b. Mulǧam (gest. 661) aus Rache für das blutige Geschehen von Nahrawan in der Großen Moschee von Kufa (arab. masǧid al-kūfa al-muʿaẓẓam) erdolcht wurde.15

Die Aufspaltung

Die Schwachstelle der charidschitischen Bewegung lag in ihrer Unfähigkeit, die religiöse sowie politische Einheit zu wahren. Die anfangs noch einigermaßen homogene Gemeinschaft der Charidschiten begann sich nach dem Ableben der umayyadischen Kalifen Muʿāwiya I und Yazīd I. im Jahr 683 in mehrere, teilweise verfeindete Fraktionen zu spalten, nämlich die Azraqiten (arab. al-azāriqa), Bayhasiten (arab. al-bayhasiyya), Sufriten (arab. aṣ-ṣufriyya), Nadschaditen (arab. an-naǧdāt), Adschariten (arab.ʿajārida) und Ibaditen (arab. al-ʾibāḍiyya).16 Einige dieser charidschitischen Untergruppen nahmen eine politisch gemäßigtere Haltung ein, während andere sich rigoros dem Extremismus zuwandten.

Die radikalen und gefürchteten Azraqiten folgten dem Charidschiten und zugleich Namensgeber Nāfiʿ ibn al-Azraq (gest. 685). Sie zogen sich von Basra nach Chusistan (arab. ḫūzestān) zurück, wo sie Zerstörung und Tod verbreiteten. Mit großer Brutalität gingen sie gegen alle Menschen vor, die ihre (politischen) Anschauungen nicht teilten. Die Azraqiten hielten an der istiʿrāḍ-Praxis fest, die es ihnen erlaubte, Muslime wie Andersgläubige mitsamt ihren Kindern und Frauen zu töten, welche sich weigerten, ihnen zu folgen. Die azraqitischen Anhänger wurden allerdings in der alten iranischen Region Tabaristan im Jahre 698 komplett vernichtet.17

Die Bayhasiten teilten eine ähnlich strenge Haltung wie die Azraqiten und befürworteten die Tötung von nicht-charidschitischen Muslimen sowie die Beschlagnahme ihrer Besitztümer. Nachdem ihr Gründungsvater Abū Bayhas (gest. 713) grausam hingerichtet worden war, verzweigten sie sich in verschiedene Unterabteilungen, bis sie sich allmählich komplett auflösten.18 Die Nadschaditen, Adschariten und Sufriten vertraten eine gemäßigtere Position, doch auch sie lösten sich in den folgenden Jahrzehnten, spätestens im Mittelalter, auf. Den gemäßigtsten und bis heute existierenden Zweig der Charidschiten bildet das Ibaditentum, das weder dem Sunnitentum noch der Schia zugeordnet werden kann. Auf die Ibaditen wird hier nicht näher eingegangen, da sie in einem anderen Islamportal-Artikel gesondert thematisiert werden.

Die grundlegende Doktrin der Charidschiten

In bestimmten Aspekten ähnelt die Dogmatik der Charidschiten jener der Muʿtaziliten, wie im Fall der Doktrin des Antianthropomorphismus und der Theorie der Erschaffenheit des Korans (arab. ḫalq al-qurʾān). Ein zentrales Element der charidschitischen wie auch muʿtazilitischen Glaubenslehre ist der Glaube an die absolute Einheit Gottes (arab. tawhīd). Die Charidschiten lehnten jegliche Form von Götzendienst oder Heiligenverehrung (širk) strikt ab. Sie glaubten daran, dass einzig Gott, als dem alleinigen Schöpfer und Herrscher des Universums, Anbetung gebühre. Nach charidschitischer Überzeugung ist Gott allmächtig und kennt die Taten aller Menschen, wobei er diese jedoch nicht bestimmt bzw. leitet. Charidschiten waren daher große Befürworter des freien Willens. Sie verwarfen ebenso das Konzept einer Vermittlungsinstanz zwischen Gott und den Gläubigen, weil jeder einzelne Mensch für seine Handlungen selbst verantwortlich sei und dementsprechend unabhängig beurteilt werde.19

Folglich legten die Charidschiten äußerst großen Wert auf die strikte Beachtung religiöser Prinzipien, welche die Verantwortung des Einzelnen betonen, wie etwa die Verpflichtung, das Gute zu gebieten und das Böse zu verbieten. Das bereits erwähnte Motto der frühen Charidschiten: „Das Urteil gehört Gott allein!“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass jede eindeutige Vorschrift des Korans strengstens befolgt werden muss. Jede Person, die eine große Sünde beging, das göttliche Gesetz nicht befolgte, Neuerungen einführte oder schlichtweg ihre Ansichten nicht aktiv unterstützte, wurde aus der Gemeinschaft der Charidschiten ausgeschlossen und als Feind hingestellt, deren Blut vergossen werden durfte.20 Diese Doktrin wurde von den fundamentalistischen Zweigen des Charidschitentums, insbesondere den Azraqiten, als theologische Grundlage für ihre oftmals extremistischen Aktionen verwendet.21

Auch die Thematik des Imamats22 spielte eine zentrale Rolle innerhalb der Bewegung der Charidschiten. Sie hielten an der Notwendigkeit eines Imams fest, der als religiöser und zugleich politischer Führer agieren sollte.23 Als große Fürsprecher von Gleichheit und Gerechtigkeit lehnten die Charidschiten bei der Auswahl des Kalifen bzw. des Imams jegliche Bevorzugung aufgrund familiärer oder stammesmäßiger Beziehungen energisch ab. Während sie die ersten zwei sog. rechtgeleiteten Kalifen Abū Bakr (gest. 634) und ʿUmar (gest. 644) verehrten, missbilligten sie die nachfolgenden Kalifen wie ʿUṯmān, ʿAlī und Muʿāwiya I., weil sie sich gegen deren, auf der ethnischen Zugehörigkeit zum Stamm der Quraiš beruhenden, Anspruch auf das Amt des Imams wehrten.24 Die Charidschiten unterstützten nämlich den Grundsatz, dass jeder gläubige Mann in die höchste Würde des Imamats erhoben werden konnte, selbst ein niedriger Sklave oder Nichtaraber (arab. ʿaǧam). Ihrer Überzeugung nach sollte der würdigste Gläubige zum Imam ernannt werden, solange er religiös und moralisch untadelig sei.25 Sie betonten die Notwendigkeit einer gerechten, kompetenten und rechtschaffenen Führung, welche die Interessen der Gemeinschaft stets über persönliche Macht und Eigennutz stellen sollte. Falls der auserkorene Imam in dieser Hinsicht Unzulänglichkeiten zeigte, musste er unverzüglich abgesetzt und durch das hervorragendste Mitglied der Gemeinde ersetzt werden.26

Fazit

Das Charidschitentum ist die vermutlich älteste Sonderströmung in der islamischen Geschichte, welche bereits Mitte des siebten Jahrhunderts aus der Anhängerschaft ʿAlīs hervorgegangen ist. Die frühen Charidschiten waren insbesondere dadurch berüchtigt, dass sie oftmals ihre Mitmenschen aufgrund ihrer Glaubensunterschiede als Ungläubige ansahen und angriffen.27 Jedoch formten sich mit der Zeit innerhalb der Charidschiten mehrere Zweige, die ein gemäßigteres Religionsverständnis vertraten, wie beispielsweise die Ibaditen. Die Charidschiten zeichneten sich durch ihren Fokus auf Gleichheit und ihre Ablehnung von familiärer, ethnischer und stammesmäßiger Bevorzugung bei der Kalifen- und Imamwahl aus. Sie betonten die direkte Beziehung zwischen dem Individuum und Gott, wodurch sie das Konzept des freien Willens und der individuellen Verantwortung stets in den Vordergrund rückten.

1 Vgl. Hans Wehr/Lorenz Kropfitsch: Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart. Arabisch – Deutsch, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020, S. 243.

2 Vgl. Heinz Halm: »Die Glaubensrichtungen des Islam«, in: Islam in Deutschland. Der Bürger im Staat 51 (2001), S. 188-192, hier: S. 189.

3 Vgl. Ersilia Francesca: “Khārijīs”, in: Encyclopaedia of the Qurʾān, General Editor: Johanna Pink, University of Freiburg.

4 Vgl. Lutz Berger: Islamische Theologie, Wien: Facultas 2010.

5 Vgl. Giorgio Levi Della Vida: “K̲h̲ārid̲j̲ites”, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition, Edited by: P. Bearman, Th. Bianquis, C. E. Bosworth, E. van Donzel, W. P. Heinrichs.

6 Vgl. islam-ist.de: Kharidschiten, https://islam-ist.de/islamische-begriffe/kharidschiten/, abgerufen am 10.05.2023.

7 Vgl. ebd.

8 Vgl. EI2 Vol. 1 s. v. „K̲h̲ārid̲j̲ites“.

9 Vgl. ebd.

10 Vgl. Rudolf Ernst Brünnow: Die Charidschiten unter den ersten Omayyaden. Ein Beitrag zur Geschichte des ersten islamischen Jahrhunderts, Leiden: E. J. Brill 1884, S. 14f.

11 Vgl. EI2 Vol. 1 s. v. „K̲h̲ārid̲j̲ites“.

12 Vgl. R. E. Brünnow 1884, S. 17f.

13 Vgl. ebd., S. 20.

14 Vgl. EI2 Vol. 1 s. v. „K̲h̲ārid̲j̲ites“.

15 Vgl. ebd.

16 Vgl. R. E. Brünnow 1884, S. 55f.

17 Vgl. IEQ Vol. 1 s. v. “Khārijīs”.

18 Vgl. M. Th. Houtsma: “Abū Bayhas”, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition, Edited by: P. Bearman, Th. Bianquis, C. E. Bosworth, E. van Donzel, W. P. Heinrichs.

19 Vgl. IEQ Vol. 1 s. v. “Khārijīs”.

20 Vgl. L. Berger 2010, S. 65f.

21 Vgl. ebd.

22 Vgl. Islamportal.at: Imam – wer oder was ist das?, https://www.islamportal.at/beitraege/artikel/imam-wer-oder-was-ist-das, abgerufen am 15.05.2023.

23 Vgl. Adel Theodor Khoury/Ludwig Hagemann/Peter Heine: Islam-Lexikon A - Z. Geschichte - Ideen - Gestalten, Freiburg: Herder 2006, S. 293.

24 Vgl. ebd., S. 297f.

25 Vgl. Yves Thoraval: Lexikon der islamischen Kultur, Hamburg: Nikol 2005, S. 318.

26 Vgl. A. T. Khoury/L. Hagemann/P. Heine 2006, S. 298.

27 Vgl. Rüdiger Lohlker: Islam. Eine Ideengeschichte, Wien: Facultas 2008.

Brünnow, Rudolf Ernst: Die Charidschiten unter den ersten Omayyaden. Ein Beitrag zur Geschichte des ersten islamischen Jahrhunderts, Leiden: E. J. Brill 1884.

Levi Della Vida, Giorgio: “K̲h̲ārid̲j̲ites”, in: Encyclopaedia of Islam, Second Edition, Edited by: P. Bearman, Th. Bianquis, C. E. Bosworth, E. van Donzel, W. P. Heinrichs.

Wellhausen, Julius: Die religiös-politischen Oppositionsparteien im alten Islam, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1901.

X

Wir verwenden Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige sind notwendig, während andere uns helfen, diese Website und Ihre Erfahrung zu verbessern.