Die Problematik von Fatwā-Diensten im Netz

Artikel 12.03.2018 Das Redaktionsteam

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der Problematik von Fatwā-Diensten im Netz. Nach einer allgemeinen Einführung über Fatwās wird anhand einiger Beispiele deren Wirkung in der Öffentlichkeit aufgezeigt, um in einem nächsten Schritt näher auf die verschiedenen Fatwā-Dienste einzugehen und sich mit deren Inhalten auseinanderzusetzen.


Aktuell werden Menschen immer mehr mit Fragen und Herausforderungen wie Gentechnik oder Organtransplantation konfrontiert, auf die sie auch eine religiöse Meinung kennen wollen. Da der Islam kein Lehramt besitzt, hat sich das Fatwā-Wesen entwickelt, dessen Aufgabe es ist diese Fragen zu beantworten. Jede Muslimin/jeder Muslim kann sich an einen Experten, Gelehrten, islamischen Würdenträger oder eine Behörde mit einer bestimmten Fragestellung wenden, die daraufhin auf Grundlage der islamischen Quellen ein religiöses Gutachten erstellen. Da nicht jeder Gelehrte aber dazu befähigt ist, Fatwās zu erstellen, hat sich in den meisten Ländern die Institution des Muftīs wie beispielsweise in Ägypten mit dem Dār al-Iftāʾ al-Miṣrīya (Ägyptisches Fatwa-Amt) oder in Saudi-Arabien mit der al-Laǧna ad-Dāʾima li-l-Buḥūṯ al-ʿIlmīya wa-l-Iftāʾ (Ständiges Komitee für Rechtsfragen) entwickelt, die sich eigens mit Rechtsfragen dieser Art beschäftigt. Auch die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) hat einen entsprechenden Mufti ̄, an den man sich jederzeit wenden kann. Die IGGÖ hat noch zwei weitere Organe, den Imame-Rat, der sich mit der Gottesdienst- und Morallehre beschäftigt sowie den Beratungs-Rat, der sich mit der Glaubenslehre und den religiösen Angelegenheiten beschäftigt.1 Es sei noch erwähnt, dass eine Fatwā eine Interpretation eines Gelehrten ist und somit keinesfalls Rechtsverbindlichkeit hat, sondern vielmehr eine Empfehlung und Klarstellung für den jeweiligen Fragesteller darstellt.2

Obwohl Fatwās sowohl im Bereich der gottesdienstlichen Handlungen als auch bei zwischenmenschlichen Beziehungen eine wichtige Funktion erfüllen, wurde vor allem jene gegen den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie bekannt, die als Todesurteil in unser Bewusstsein Eingang gefunden hat. Eine weitere Fatwā, die für Aufsehen gesorgt hat und die einen Fatwa-Wahn sehr schön aufzeigt, ist die Fatwa des Stillens von Erwachsenen aus dem Jahre 2007, die ägyptische Frauen aufruft, ihre männlichen Kollegen im Büro fünf Mal zu stillen mit dem Ziel, dadurch einen Geschlechtsverkehr zu verhindern, weil das Stillen als mütterlicher Akt angesehen wird.3 Auf der anderen Seite gibt es aber auch bedeutende Fatwās wie jene gegen die Genitalverstümmelung der Mädchen in Somalia4, den Aufruf von 120 muslimischen Gelehrten gegen den IS und deren Verständnis vom Koran5 oder das jüngste Fatwa (Dezember 2015) von 70.000 indischen muslimischen Geistlichen gegen jegliche Art von Terrororganisationen6. Dies macht deutlich, dass Fatwās eigentlich wichtige Instrumente sind um auf neue Situationen angemessen zu reagieren, sie aber auch von extremistischen Kreisen für ihre Propaganda missbraucht werden können.

Fatwās im Netz

Mit dem Aufkommen des Internets hat man versucht dieses neue Medium für die Verbreitung von Fatwās fruchtbar zu machen. Bereits 1995 erschienen die ersten Fatwā-Anbieter. In den Jahren 1995 bis 2001 erschienen über 27.000 Fatwās im World Wide Web. Ein überwiegender Anteil dieser gehörten bestimmten Randgruppen.7 Grundsätzlich unterscheidet man zwischen Fatwa-Online-Diensten und Fatwa-Archiven. Während man bei einem Online-Dienst selbst eine Frage stellen kann und man daraufhin eine Fatwā erhält, werden bei Archiven Fatwās publiziert, die schon in den Fatwā-Sammlungen vorhanden sind.8 Ein weiterer beachtenswerter Unterschied ist, ob die Fatwās von Institutionen oder Gelehrten veröffentlicht wurden. So hat das saudische Amt für Fatwā9 bereits 2126 Fatwās in englischer Sprache veröffentlicht, die laut dem Statistikdienst SimilarWeb von über 1,7 Mio. Besuchern monatlich10 aufgerufen werden. Zu der zweiten Gruppe gehört beispielsweise die Fatwa-Datenbank des umstrittenen ägyptischen Gelehrten Yūsuf al-Qaraḍāwī, der in arabischer Sprache bereits 6739 Fatwās online bereitgestellt hat11, die wiederum von rund 300.000 Besuchern monatlich aufgerufen werden.12 Leider gibt es keine aktuellen Statistiken über die sich im Umlauf befindenden Fatwās.

Im deutschsprachigen Raum gibt es einige große Fatwa-Portale, die allesamt salafistisch geprägt sind und eine große Anzahl von Besuchern anziehen. Einige dieser Seiten sind seit einiger Zeit geschlossen und nicht mehr aktiv. Ein großes Fatwa-Angebot mit salafistischer Prägung bot bis zuletzt die Seite fataawa.de. Sie war von 2003 bis 2016 aktiv und ist mittlerweile nicht mehr online. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie geschlossen ist, denn eine Domainabfrage zeigt, dass diese weiterhin aktualisiert wird. Im Web-Archiv13 sind noch die älteren Versionen dieser Seite gespeichert und können jederzeit abgerufen werden. Eine zweite salafistische Fatwa-Seite, die jedoch gänzlich geschlossen wurde und von 2008 bis 2011 aktiv war, ist islam-fetwa.de. Das Besondere an dieser Seite war die sogenannte Fatwa-Hotline, an der man von Montag bis Donnerstag anrufen konnte um sich persönlich eine Fatwa zu holen. Dieses zeugt von der Professionalität der Betreiber dieser Portale. Auch von dieser Seite hat das Web-Archiv14 einige wenige gespeicherte Versionen. Es gibt aber weitere salafistisch geprägte Webseiten, die nicht geschlossen sind und weiterhin Fatwas veröffentlichen. Eines davon ist die mehrsprachige Plattform islamweb.net, die auf der deutschen Version derzeit 1380 Fatwas veröffentlicht hat.15 Die Seite al-islaam.de (früher salaf.de) veröffentlicht seit 2006 salafistische Texte und hat eine Hotline, bei der islamische Fragen von Montag bis Donnerstag nur telefonisch beantwortet werden können16. Ein anderes Portal, das man der salafistischen Strömung zuordnen kann, ist die Webseite islamfatwa.de. Seit 2017 wurden an der Seite einige Änderungen17 vorgenommen, sodass nun dort ein Link erscheint, der zur Webseite islamgegenextremismus.de führt. Beide Seiten werden allerdings von der gleichen Person betrieben, wie eine Domainabfrage zeigt. Derzeit sind hier 1366 Fatwas online18. Eine Anfrage an die Wissenschafts-Suchmaschine "WolframAlpha" zeigt, dass dieses Portal täglich 3600 Besucher19 anzieht. Der Statistikdienst SimilarWeb zählt monatlich rund 300.000 Besucher20 auf dieser Seite. Diese Daten sollen lediglich als Veranschaulichung dienen, dass solche Dienste auch im deutschsprachigen Raum sehr aktiv sind und aufgrund der Besucherzahlen deren Wirkung nicht unterschätzt werden darf.

Inhalte

Aus diesem Grund ist eine inhaltliche Auseinandersetzung, mit diesen Fatwā-Diensten, die regelmäßig aktiv sind und das Vertrauen vieler Besucher genießen, von enormer Bedeutung. So wird zum Beispiel in einem dieser Portale einem Mann empfohlen, seine Frau zuhause zu lassen, wenn er den Einkauf für sie erledigen kann.21 In einer anderen Fatwā heißt es, dass Mädchen und Buben in den Schulen getrennt sein sollten22, denn alles andere würde eine "Fitna" (Versuchung) darstellen. Weiters wird es einem Algerier verboten, eine andere Staatsbürgerschaft (in seinem Fall die kanadische) als die eines islamischen Landes anzunehmen, mit der Begründung sich damit den "Ungläubigen" nicht zu unterwerfen und sich nicht an ihre Gesetze halten zu müssen.23 Auch rät man einem französischen Muslim aus einem nicht-muslimischen Land auszuwandern, falls dieser Angst habe, Sünden zu begehen. Diese sogenannten Fatwa-Dienste sind weder zeitgemäß noch kontextbezogen und damit ein großes Hindernis für die Integration der Musliminnen und Muslime in die europäische Gesellschaft. Dabei fehlen ihnen sowohl fundierte Kenntnisse der eigenen Theologie als auch der Lebensrealität jener Menschen, die sich an sie wenden.

Schluss

Wenn man sich die Anzahl der Webseiten, die sich dem Fatwa-Wesen widmen, und die Besucheranzahl anschaut, wird klar, dass besonders unter den in Europa lebenden Musliminnen und Muslimen ein großer Bedarf an religiöser Orientierung herrscht. Leider ist das Angebot an wissenschaftlich fundierten und sich liberal verstehenden Onlinediensten, die diesen Bedarf bedecken könnten sehr gering. Somit fließen auch neue liberalere Positionen innerhalb des Islam sehr wenig an die breite Öffentlichkeit. Diese Lücke wird leider meistens von fundamentalistisch geprägten Strömungen gefüllt, was eine Fülle von Problemen verursacht. Um diesen teilweise entgegenzuwirken, braucht es verschiedene Alternativen, um den Zustrom auf die fundamentalistischen Webseiten zu dämpfen. 

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