Ibn Sīnā (980–1037) – der Universalgelehrte

Artikel 31.10.2022 Redaktionsteam

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem islamischen Gelehrten Abū ʿAlī al-Ḥusayn ibn ʿAbd Allāh ibn Sīnā, der im Westen unter dem latinisierten Namen Avicenna bekannt ist. Nach einem kurzen biografischen Überblick werden einige seiner bedeutsamsten Werke vorgestellt. Anschließend wird auf seinen philosophischen und ontologischen Zugang – mit Fokus auf dem Konzept „des notwendig Seienden“ – eingegangen.


Biografie

Dass heute vieles über Ibn Sīnās Leben bekannt ist, verdanken wir einem autobiografischen Brief, den er seinem Schüler al-Ǧuzǧānī (gest. 1037) geschickt hatte, in welchem Ibn Sīnā detailliert über seine persönliche Entwicklung und Bildung erzählt.

Ibn Sīnā ist 980 in einem Dorf namens Afschana bei Buchara in Chorasan im heutigen Usbekistan geboren. Bereits als kleiner Junge bekam er durch seinen Vater, der Mitglied einer geheimen Gelehrtengesellschaft, die sich mit Alchemie beschäftigte, Einblick in Diskussionen zu Philosophie, Natur, Geometrie und Arithmetik. In seinen Jugendjahren vermittelte ihm sein Lehrer Abū ’Abdallāh an-Nātilī erste Einblicke in die Gebiete des islamischen Rechts, der Philosophie und Medizin. Nachdem sein Lehrer verreist war, vertiefte sich Ibn Sīnā im Selbststudium in die Studien der Physik und Metaphysik von Aristoteles, die er bereits bei an-Nātilī kennengelernt hatte. Ibn Sīnās Interesse an der Medizin und Heilkunst stieg, er ließ jedoch metaphysische Fragen nie außer Acht, insbesondere jene des Aristoteles.1 In der Folge begann Ibn Sīnā ein Wanderleben durch verschiedene Sultanate und Kalifate. Diese Wanderjahre führten ihn an persische Fürstenhöfe, wo er als Arzt, Astronom, Staatsmann und Schriftsteller wirkte und als Gelehrter berühmt und beliebt wurde. In Hamadan wurde er Wesir und Leibarzt des damaligen Fürsten Shams al-Dawla (gest. 1021). Die letzten 14 Jahre seines Lebens verbrachte Ibn Sīnā als Leibarzt des Fürsten von Isfahan und starb im Jahre 1037 in Hamadan an einer schweren Kolik.2

Werke

Dass Ibn Sīnā bis weit ins 16. Jahrhundert als medizinisch-philosophische Autorität galt, lag an seinen zahlreichen veröffentlichten Werken; er verfasste ungefähr 450 Werke – von denen noch 240 erhalten sind –, die meisten zu seinen zwei größten Wissensgebieten, der Philosophie und Medizin. Der Universalgelehrte war jedoch auch Physiker, Mathematiker, Dichter, Alchemist und Wissenschaftler weiterer Disziplinen. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören der fünfbändige Kanon der Medizin (Qānūn fī 'ṭ-ṭibb) sowie die beiden philosophischen Werke Buch der Heilung (Kitāb aš-šifā’) und Buch der Hinweise und Mahnungen (Kitāb al-išārāt wa 't-tanbīhāt).

Im Kanon der Medizin stellte Ibn Sīnā das Wissen seiner Zeit in unübertroffener Systematik und mit dialektischem Geschick zusammen. Das Werk gehörte vor allem in der griechisch-römischen Medizin über fünf Jahrhunderte lang zu den führenden medizinischen Lehrbüchern.3 Darin werden die Krankheitslehre, Anweisungen zur gesunden Lebensweise, Behandlungsmethoden, die Anatomie des Menschen, Krankheiten und Verletzungen, kosmetische Behandlungen sowie die Pharmakologie behandelt.4 

Im Bereich der Philosophie hat Ibn Sīnā nicht nur bestehende Thesen systematisch geordnet und didaktisch präsentiert, sondern auch neu überdacht und in mancher Hinsicht neu begründet. In seinem Buch der Heilung, entstanden zwischen 1020 und 1027, stellt Ibn Sīnā – in Anlehnung an die Basistexte des Aristoteles – eine philosophische Summa in vier Teilen (Logik, Physik, Mathematik, Metaphysik) vor. Unter dem Titel Liber Sufficientiae wurde das Buch später in lateinischer Übersetzung zur Grundlage der Avicenna-Rezeption in Europa. Das Buch der Hinweise und Mahnungen, entstanden zwischen 1030 und 1034, ist ein Werk, welches ebenfalls als Summa konzipiert ist, jedoch aus zwei Teilen besteht, erstens zur Logik und zweitens zur Physik und Metaphysik. Hierbei lehnt sich Ibn Sīnā nicht an der bestehenden Forschung an, sondern schreibt in freier Gedankenführung und mit einer faszinierenden Sprachkraft, weshalb dieser Text noch mehr als das Buch der Heilung die Avicenna-Rezeption im islamischen Kulturkreis geprägt hat.

Philosophische und ontologische Zugänge

Ibn Sīnās Werke sind zwar originell, jedoch ging er bei seinen Gedanken von Konzepten aus, die er bei älteren Autoren kennengelernt hatte. Dazu zählen in erster Linie Aristoteles, sowie seine Kommentatoren, an dessen Thesen sich nahezu alle Werke Ibn Sīnās orientieren, sowie der Philosoph al-Fārābī (gest. 950), den er eine Schlüsselfigur in seinem philosophischen Werdegang nennt. So nahm Ibn Sīnā Konzepte auf, die Fārābī in seinem philosophischen System entwickelt hatte. Der Unterschied liegt darin, unter welchen Umständen und mit welchen Zielsetzungen jene Konzepte einst entwickelt worden waren. Viele Konzepte, die Ibn Sīnā aufnahm, bettete er in einen neuen Kontext und er interpretierte und bewertete sie auch anders als seine Vorgänger. Ebenso hat Ibn Sīnā Themen wie Ontologie und Theologie, die Fārābī zurückgestellt hatte, in den Fokus seiner Forschung gestellt.5

Insbesondere die Wissenschaft des Seins hat Ibn Sīnā  schon seit seiner Jugend zum Grübeln gebracht – explizit eine Frage, die Aristoteles selbst aufgeworfen hatte: Wie steht die Wissenschaft des Seins, wie Aristoteles sie beschreibt, mit der göttlichen Wissenschaft in Verbindung?6

Der oder das notwendig Seiende – wāǧib al-wuǧūd

Ibn Sīnā vertritt die Meinung, dass die Ontologie darin bestehe, dass Dinge nachweislich existieren. Die Ontologie wird nicht, wie bei früheren muslimischen Denkern üblich, mit der Evidenz unserer Sinneswahrnehmung begründet, sondern beruft sich auf die Autonomie des Intellekts: Für Ibn Sīnā sind sowohl „Sein“ als auch „Ding“ prima intelligibila, also apriorische Begriffe, über die jeder gesunde Verstand vom Moment der menschlichen Reife an verfügt. Die Frage, die er sich hierbei stellt, ist: Müssen oder können Dinge existieren? Ist also ihr Sein notwendig oder nur möglich?7

„Avicenna unterscheidet zwei Arten von Sein, das eine unbedingte Sein Gottes und das der anderen Wesen, deren Nichtexistenz gedacht werden kann, die also nur ‚möglich‘ oder in der Sprache der lateinischen Scholastik ‚kontingent‘ sind. Wenn sie denn wirklich existieren, und wer wollte daran zweifeln, haben sie ihr Dasein von außerhalb verliehen bekommen, nämlich von dem einen unbedingt Seienden. Die ‚Möglichkeit‘ ist das Prinzip der Materie, wie sie Avicenna verstanden hat, und allein bei Gott, der frei von Materie ist, fällt Wesen und Existenz zusammen. […] Dieses ‚notwendig Seiende‘ kann an der Zahl nur eines sein […].“8

Einem anderen das Sein zu verleihen, kann also nur der willentliche Akt eines Schöpfers und demnach von Gott sein.9

„Mit der Feststellung, dass etwas existiert, ist für Avicenna also die Annahme einer ersten, notwendig-seienden und notwendig-wirkenden Ursache verbunden. Denn nur dann, wenn eine solche Ursache am Ursprung des Seins steht, ist es erklärbar, dass die vielen kontingenten Dinge, die wir in der Welt wahrnehmen, überhaupt existieren. Diese Annahme hat jedoch eine weitere Konsequenz: Sie impliziert nicht nur die Notwendigkeit der Existenz Gottes, sondern besagt auch, dass alles, was von ihm bewirkt wird, mit Notwendigkeit an seine Existenz gebunden ist. Die Dinge, die von ihm hervorgebracht werden, müssen folglich gleichzeitig mit ihm existieren (weil notwendige Wirkungen von ihrer Ursache nicht zu trennen sind). Gott existiert aber von Ewigkeit her, denn er ist ja, wie wir gerade gesehen haben, der Notwendig-Seiende. Also besteht auch die Welt schon immer, da ihr Sein von Ewigkeit her von ihm bewirkt wird.“10

Diese Folgerung brachte Ibn Sīnā heftige Kritik ein: Man warf ihm vor, er würde dem Koran widersprechen und sehe keine Unterschiede zwischen Gott und der Schöpfung.11 „Genau das war jedoch nicht seine Absicht. Seine Überlegungen zielten eher darauf, die ontologische Differenz zwischen Gott und den Geschöpfen herauszuarbeiten und begrifflich schärfer, als das zuvor geschehen war, zu markieren.“12

Ibn Sīnās Konzept der Notwendigkeit wurde in der späteren Geschichte vom Aufklärer Immanuel Kant (gest. 1804) übernommen und als „kosmologischer Gottesbeweis“ benannt.13 Neben dem kosmologischen Gottesbeweis unterscheidet Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ auch zwischen ontologischem, teleologischem und moralischem Gottesbeweis, wobei er letzteren selbst entwickelt hatte.14 Doch obwohl Kant verschiedenste Typen von Gottesbeweisen aufzählte, widersprach er theoretisch ihrer Möglichkeit – für die praktische Vernunft sei es dennoch notwendig,  die Existenz Gottes anzunehmen: „Die Wirklichkeit eines höchsten moralisch-gesetzgebenden Urhebers ist also bloß für den praktischen Gebrauch unserer Vernunft hinreichend dargetan, ohne in Ansehung des Daseins desselben etwas theoretisch zu bestimmen.“15

Somit liefert Kant keinen Gottesbeweis im logischen Sinne.16

Fazit

Ibn Sīnā gilt als einer der am stärksten umworbenen und zugleich umstrittensten Intellektuellen seiner Zeit. Neben islamischen Gelehrten waren es vor allem zahlreiche westliche Wissenschaftler, die sich intensiv mit Ibn Sīnās Gedankenwelt beschäftigten. Da er sowohl dem Einfluss der antiken griechischen Philosophie als auch jenem der monotheistischen Religionen unterlag, wurden Ibn Sīnās Skizzen von Theologen der monotheistischen Religionen kritisiert. Nichtsdestotrotz kann man sagen, dass die zahlreichen Übersetzungen seiner Werke vom Arabischen ins Lateinische, welche bereits im 12. und 13. Jahrhundert erfolgten, dem Universalgelehrten Berühmtheit in Europa einbrachten und dass seine wissenschaftlichen Theorien gegenwärtig noch immer von großer Bedeutung sind.

1 Vgl. Lenn E. Goodman: Avicenna (= Arabic Tought and Culture), London/New York: Routledge London 1995, S. 11–15.

2 Vgl. ebd., S. 19–49.

3 Vgl. Ulrich Rudolph: Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (= Beck'sche Reihe, 2352), München: C. H. Beck 2008, S. 44 f.

4 Vgl. Gotthard Strohmaier: Avicenna (= Beck´sche Reihe, 546), München: Beck 1999, S. 114–116.

5 Vgl. U. Rudolph 2008, S. 44–46.

6 Vgl. L. E. Goodman 1995, S. 14.

7 Vgl. U. Rudolph 2008, S. 46.

8 G. Strohmaier 1999, S. 62.

9 Vgl. ebd., S. 63.

10 U. Rudolph 2008, S. 47.

11 Vgl. ebd., S. 47.

12 Ebd.

13 Vgl. G. Strohmaier 1999, S. 62.

14 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (= Akademieausgabe von Immanuel Kants Gesammelten Werken, III). Bonner Kant-Korpus. Elektronische Edition, o. O.: 17872, S. 396, korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/Kant/aa03/, abgerufen am 03.10.2022.  

15 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (= Edition Werke der Weltliteratur), o. O.: Gröls Verlag 2022, S. 263.

16 Vgl. I. Kant 1787, S. 523.

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