Die Befreiung, in der das Ich und das Wir zu Einem werden - Mohamed Aziz Lahbabi (1923 – 1993)

Artikel 03.09.2018 Redaktionsteam

Dieser Beitrag befasst sich mit dem marokkanischen Philosophen Mohamed Aziz Lahbabi. In den 1950er und 60er Jahren entwickelte Lahbabi, beeinflusst von den französischen Philosophen Emanuel Mounier und Henri Bergson und der philosophischen Strömung des Personalismus (frz. personnalisme) den realistischen Personalismus und eine islamische Anthropologie, bei der Personwerdung, Befreiung sowie das reflektierte Glaubenszeugnis eine zentrale Rolle spielen.


Mohamed Aziz Lahbabi1 ist ein marokkanischer Philosoph, der in seinem Denken koranische Aussagen zur menschlichen Person im Kontext ihrer Würde, Rechte und Pflichten mit den zentralen Anliegen des Personalismus verbindet.2 Der Personalismus ist eine französische philosophische Strömung der 1930er bis 1970er Jahre, die sich im Umfeld der Zeitschrift Esprit entfaltete und vor allem von deren Chefredakteur, dem christlichen französischen Denker Emmanuel Mounier (gest. 1950) geprägt wurde.3 Mouniers Denken übte auf Lahbabi starken Einfluss aus bei dessen Entwicklung einer islamischen Anthropologie, in welcher die šahāda, das islamische Glaubensbekenntnis, sowie die Begriffe der Befreiung und Personwerdung eine zentrale Rolle spielen.4

LEBEN

Mohamed Aziz Lahbabi wird am 25. Dezember 1923 im marokkanischen Fès in eine Familie von Gelehrten und Juristen geboren. Nach dem frühen Tod seiner Mutter wächst er ab seinem zweiten Lebensjahr bei seinen Großeltern auf. Im Zusammenhang mit seinem politischen Engagement in der marokkanischen Unabhängigkeitsbewegung (Marokko ist damals französisches Protektorat und erlangt 1956 die Unabhängigkeit) wird Lahbabi inhaftiert. Nach seiner Flucht nach Frankreich studiert er in Caen und Paris Physik, Philosophie und orientalische Sprachen. Während eines mehrjährigen Forschungsstipendiums in Paris erlangt er seinen Doktorgrad in Philosophie an der Pariser Sorbonne mit seiner Arbeit De l´être à la personne. Essai de personnalisme réaliste (dt. Vom Sein zur Person. Versuch eines realistischen Personalismus). Seine Ergänzungsthese trägt den Titel Liberté ou libération? (A partir des libertés bergsoniennes) (dt. Freiheit oder Befreiung? Über die bergsonschen Freiheiten hinaus).5

Nach der Unabhängigkeit Marokkos kehrt Lahbabi in seine Heimat zurück und wirkt an der kurz zuvor gegründeten Universität Mohamed V in Rabat als erster Professor für allgemeine Philosophie (ab 1959) an der Geistes- und Humanwissenschaftlichen Fakultät, der er in der Folge auch als Dekan (ab 1961) und Ehrendekan (ab 1969) vorsteht.6 Im Jahr 1969 folgt Lahbabi dem Ruf an die Universität von Algier, des Weiteren ist er als Berater des algerischen Wissenschaftsministeriums tätig. Zurück in Marokko ab 1974 ist er Forschungsdirektor und engagiert sich im wissenschaftlichen christlich-islamischen Dialog. Er partizipiert an zahlreichen Tagungen und Konferenzen philosophischer und religionsphilosophischer Art und ist unter anderem auch Gastprofessor in Rom. Sein Haus im marokkanischen Temara wird zu einer Begegnungsstätte für Intellektuelle und Philosophen. Die Mitgliedschaft in der französischen Académie des Sciences Outre-Mer (1980), seine Präsidentschaft (als Begründer) der Société marocaine de philosophie und die Herausgeberschaft der Zeitschrift Études littéraires et philosophiques stellen weitere Punkte in seiner reichhaltigen Biographie dar.

Lahbabi ist jedoch nicht nur Philosoph, sondern verfasst als Schriftsteller und Poet auch Romane, Novellen und Gedichte. Er ist Begründer des maghrebinischen Schriftstellerverbandes, welchem er als Präsident vorsteht, sowie Herausgeber der Zeitschrift Āfāq (dt. Horizonte).

Mohamed Aziz Lahbabi stirbt am 23. August 1993.7

DENKEN

Zentrales Thema in Lahbabis Philosophie ist die Frage nach dem Menschsein bzw. der Menschwerdung, dem Weg „vom Seienden zur Person“8. Personalisierung und Befreiung stellen Schlüsselbegriffe in seinem Denken dar. Lahbabi geht, beeinflusst von Mouniers Personalismus, vom Begriff der „Person“ aus. Mounier versteht „Person“ „im radikalen Gegensatz zum Begriff ‚Individuum‘ […]. Der Individualist ist ihm zufolge ein abstrakter Mensch ohne Gemeinschaft und ohne Verantwortung, ausgestattet mit einer unbedingten Freiheit.“9 Mounier spricht im Unterschied zu dieser „eroberungssüchtigen Freiheit […] von der Freiheit als Befreiung.“10 Diesen Ansatz entwickelt Lahbabi weiter.

Neben Mounier prägt die Beschäftigung mit dem französischen Philosophen Henri Bergson (gest. 1941) die Entwicklung des realistischen Personalismus bei Lahbabi. Bergsons Sicht auf die „Freiheit als innere Erfahrung oder als Dauer des Tiefen-Ich“,11 losgelöst von Abhängigkeiten gegenüber dem Anderen und der Gesellschaft, führt dazu, dass sich der Mensch „für seine eigene Selbstverwirklichung […] von den äußeren Einflüssen befreien“12 muss. Lahbabi hingegen sieht das Ich im Unterschied zu Bergson als „ein offenes und kein geschlossenes Sein.“13 So ist „das personalisierende Ich immer eingebunden […] in einem Zeitfluss und in einem räumlichen Horizont, […] in einer Sprach- und in einer Gefühlswelt, in einer Welt der Werte und in einer des Engagements. Diese Dimensionen findet unser Ich vor. Es wirkt in ihnen mit, ohne sie vollends zu bestimmen. Denn die Dimensionen entstehen erst mit und aus unseren Beziehungen zu anderen.“14

Lahbabi steht für eine „Konzeption der Befreiung […], in der das Ich und das Wir zu Einem werden.“15 Es besteht ein „Drang [élan] zum Wir […], in dem das Ich sich übersteigt ohne sich zu entpersonalisieren.“16

Lahbabis intensive Beschäftigung mit der Frage nach der Personwerdung ist im historischen Kontext des Kolonialismus zu verorten, in dem er selbst eingebunden ist. Lahbabi verweist auf die depersonalisierenden Auswirkungen des Kolonialsystems, die sich etwa in der Frage nach der Ebenbürtigkeit seiner Person mit den Europäern widerspiegeln.17 Auch in der „Sprachlosigkeit, Nichtkommunikation und einem Gefühl der inneren Leere“18, die in seiner Generation geherrscht haben, anstelle von „Sprache, Kommunikation, geistige[m] Leben als Felder[n] der Personalisierung“19, werden diese Auswirkungen bemerkbar.20

„Der Personalismus […] beginnt da, wo die Person die blinde Unterordnung unter irgendjemanden und irgendetwas verweigert und die Vernunft und den Geist als den höchsten Wert anerkennt.“21

GLAUBE UND VERNUNFT

Diese Aussage führt zur Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glauben, doch der religiöse Kontext wird von Lahbabi keineswegs verneint.22 Er beschreibt seinen realistischen Personalismus als „Ergebnis einer Interaktion der islamischen und westlichen Kultur“23, entstanden aus „dem Wunsch, das realistische Denken innerhalb der islamischen Kultur wieder zu beleben und zu entwickeln.“24 Er kritisiert die islamische Kultur ob ihres „patriarchalen Kollektivismus, der jede personale Entwicklung unterbindet, die […] [westliche Kultur] wegen ihres übersteigerten Individualismus, durch den die Gemeinschaftsdimension des Menschlichen problematisch wird.“25 Ziel des realistischen (muslimischen, wie er später auch genannt wird) Personalismus ist „die Schaffung eines muslimischen Ichs […], das sich in einem steten Prozess der Personalisierung befindet.“26 Aber: „‚Gott‘ wird in Klammern gesetzt, d.h. ihm wird keine aktive Rolle in der Personkonstitution zugewiesen, obwohl er präsent bleibt in den Verweisen auf den religiös-kulturellen Kontext“27 Lahbabis.

Die Vernunft steht nicht im Widerspruch zum Glauben. Vielmehr bedarf die Person ihrer, um den Glauben und die ihm innewohnende eigene Rationalität zu verstehen.28 Dies geschieht im Rahmen des folgenden Prozesses:

„1. Durch das Verstehen ihres Glaubens wird dieser selbst zum Feld der Personalisierung der Person. 2. Die Person macht den Glauben auch für andere verstehbar und so zu einem Teil des gemeinsamen geistigen Horizonts. Der Glaube muss sich in diesem Kommunikationshorizont bewähren. 3. Mit dem Verstehen des Glaubens ist auch seine Dynamisierung verbunden. Die gläubige Person überschreitet sich in der kontinuierlichen rationalen Reflexion über den Glauben und entwickelt sich und ihren Glauben weiter.“29

Lahbabi kritisiert den taqlīd, das blinde Befolgen überlieferter Gelehrtenmeinungen und fordert eine Rehabilitierung des iǧtihād, des eigenständigen Bemühens um Urteilsfindung in der islamischen Theologie. „Nur die durch den ijtihad reflektierte shahada (die Bezeugung des einen und einzigen Gottes, das muslimische Glaubensbekenntnis) hat personalisierenden Wert, so Lahbabi.“30 Im Bewusstsein, „die menschlichen Sachwalter der Göttlichen Macht zu sein“31, werden wir uns der umfassenden und individuellen Verantwortlichkeit gegenüber der Gesamtheit der Welt bewusst.32 Der Islam, dessen ethisch-soziales System auf der raḥma (Barmherzigkeit) beruht, ruft zur Solidarität zwischen ebenbürtigen Menschen auf. Das Prinzip der Gleichheit und die Anerkennung der Würde eines jeden Menschen sind untrennbar daran geknüpft.33 Lahbabi spricht vom Islam als einem „mediterranen Humanismus“34, der ein „Humanismus mit Gott“35 ist, eine „Religion, die immer Partei für den Menschen ergreift.“36

Angesichts gegenwärtiger Entwicklungen, die von fundamentalistischem Gedankengut, Entkulturalisierung des Islams und politischer Instrumentalisierung geprägt sind, erscheint die Philosophie Lahbabis für ein neues, offenes europäisches Islamverständnis bedeutsam.37

„Der Glaube setzt im Islam die Person und damit ihre Freiheit voraus. Es handelt sich nicht um eine leere Orthopraxie, sondern um eine Ethik oder um eine Ethik der Verantwortung gegenüber dem anderen Menschen. Darüber hinaus ist jede Form der Bevormundung unislamisch.“38

„Seuls d´humains accents rendront sincères nos chants.“ Mohamed Aziz Lahbabi

(dt. Nur menschliche Töne werden unsere Gesänge aufrichtig machen.)

1 Anm.: Die Schreibweise seines Namens entspricht jener von Lahbabi selbst verwendeten.

2 Vgl. Mohamed Aziz Lahbabi: Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen Anthropologie. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Markus Kneer (= Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung. Religion und Gesellschaft. Modernes Denken in der islamischen Welt, Bd. 5), Freiburg im Breisgau: Verlag Herder 2011, S. 10.

3 Vgl. ebd., S. 20f.

4 Vgl. ebd., S. 10. Vgl. Mohamed Turki: »Kann der islamische Personalismus und Humanismus eine Antwort auf die gegenwärtige Sinnkrise bieten? Zu: Mohamed Lahbabi: Der Mensch: Zeuge Gottes. 2011«, in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 28 (2012), S. 125-130, hier S. 126.

5 Vgl. M. A. Lahbabi 2011, S. 14f.

6 Vgl. Mohamed Aziz Lahbabi: Freiheit oder Befreiung? Ein kritischer Versuch über die Freiheit bei Henri Bergson. Übersetzt, ergänzt und kommentiert von Markus Kneer. Berlin: Klaus Schwarz Verlag 2018, S. 13.

7 Vgl. ebd., S. 13f.

8 Rachid Boutayeb: »Befreiung - Zur Philosophie von Mohammed Aziz Lahbabi«, in: HIKMA. Zeitschrift für Islamische Theologie und Religionspädagogik 9/1 (2018), S. 83-91, hier S. 91.

9 Ebd., S. 84.

10 Qantara.de: Ibn Rushd Lecture: Freiheit? Zur Philosophie der Befreiung nach M Aziz Lahbabi 2018, de.qantara.de/inhalt/ibn-rushd-lecture-freiheit-zur-philosophie-der-befreiung-nach-m-aziz-lahbabi, abgerufen am 08.08.2018.

11 R. Boutayeb 2018, S. 89.

12 Ebd., S. 90.

13 Ebd., S. 89.

14 Qantara.de: Freiheit als dynamischer Prozess. Interview mit Markus Kneer über Mohamed Aziz Lahbabi 2011, de.qantara.de/content/interview-mit-markus-kneer-uber-mohamed-aziz-lahbabi-freiheit-als-dynamischer-prozess, abgerufen am 08.08.2018.

15 M. A. Lahbabi 2018, S. 184.

16 Ebd., S. 31.

17 Vgl. Qantara.de 2011.

18 Ebd.

19 Ebd.

20 Vgl. ebd.

21 M. A. Lahbabi, zit. nach ebd.

22 Vgl. ebd.

23 R. Boutayeb 2018, S. 85.

24 Ebd.

25 M. A. Lahbabi 2018, S. 31f.

26 R. Boutayeb 2018, S. 85.

27 M. A. Lahbabi 2018, S. 31.

28 Vgl. Qantara.de 2011.

29 Ebd.

30 Ebd.

31 M. A. Lahbabi 2011, S. 197.

32 Vgl. ebd.

33 Vgl. ebd., S. 200-202.

34 Ebd., Kap. 4: Ein mediterraner Humanismus: Der Islam, S. 192-206.

35 Ebd., S. 200.

36 Ebd.

37 Vgl. R. Boutayeb 2018, S. 91.

38 Ebd.

Boutayeb, Rachid: »Befreiung - Zur Philosophie von Mohammed Aziz Lahbabi«, in: HIKMA. Zeitschrift für Islamische Theologie und Religionspädagogik 9/1 (2018), S. 83-91.

Lahbabi, Mohamed Aziz: Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen Anthropologie (= Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung. Religion und Gesellschaft. Modernes Denken in der islamischen Welt, Bd. 5), Freiburg im Breisgau: Verlag Herder 2011.

—: Freiheit oder Befreiung? Ein kritischer Versuch über die Freiheit bei Henri Bergson. Übersetzt, ergänzt und kommentiert von Markus Kneer, Berlin 2018.

Qantara.de: Freiheit als dynamischer Prozess. Interview mit Markus Kneer über Mohamed Aziz Lahbabi 2011, de.qantara.de/content/interview-mit-markus-kneer-uber-mohamed-aziz-lahbabi-freiheit-als-dynamischer-prozess, abgerufen am 08.08.2018.

Turki, Mohamed: »Kann der islamische Personalismus und Humanismus eine Antwort auf die gegenwärtige Sinnkrise bieten? Zu: Mohamed Lahbabi: Der Mensch: Zeuge Gottes. 2011«, in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 28 (2012), S. 125-130.

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